Zu hippiehaft für Otze
In den Glossaren der Neuauflage von Haare auf Krawall haben wir ein kleines Bild versteckt, welches wir im letzten Jahr während den Recherchen zum Buch in der BStU zufällig gefunden haben. Es zeigt Otze von Schleimkeim und Rotz von Wutanfall. Aufgenommen wurde das Foto im Proberaum von Wutanfall, der Sternwartenstraße 55 HH ungefähr Mitte 1982.
Im Buch „Satan kannst du mir nochmal verzeihen“ stolpert man über eine Aussage Otzes über Wutanfall. Er betont, wie straight der Sound der Band war („richtiger Krach“), während Schleimkeim selbst eher Schepperpogo sei. Was aus heutiger Sicht wohl für jeden Schleimkeimfan eher wie ein Missverständnis klingt, stimmt. Otze bezieht sich bei seiner Einschätzung auf die ersten Jahre von SK. Also noch bevor es in Hermsdorf bei Dresden im Januar 1983 zu den Aufnahmen für die „DDR von unten“ LP kommt.
Wutanfall haben in diesen Jahren nicht nur auf Otze Eindruck gemacht. Neben Chaos, dem charismatischen Urvieh eines Punksängers, wartete die Band in der ersten Hälfte des Jahres 82 auch mit 2 Gitarristen auf, was für damalige Punkbands in der DDR absolut untypisch war.
Gemeinsam auf einer Bühne
Zum ersten Mal gemeinsam auf einer Bühne stehen Wutanfall und Schleimkeim in der ersten Hälfte des Jahres 1982 im Erfurter Johannes-Lang-Haus. Es ist bereits die zweite Punkveranstaltung in Erfurt in dieser Örtlichkeit. Bei der ersten im Dezember 1981 absolvierten Schleimkeim ihren ersten Auftritt überhaupt. Neben später bekannt gewordenen Songs wie Norm und Karnickel experimentiert Otze in dieser Zeit auch noch mit eher punkuntypischen Textpassagen wie „Frieden schaffen ohne Waffen“ herum.
Um jenes zweite Punktreffen in Erfurt gibt es viele Mythen. Beispielsweise behauptet Otze später die Jungs von Paranoia aus Dresden hätten bei ihrem Auftritt die Anlage kaputtgemacht, was die Dresdner bis heute vehement bestreiten. Fakt aber ist, dass an jenem Tag noch eine Hinterhoffete stattfand, wo die Kontakte zwischen Zwitschermaschine und Schleimkeim geknüpft wurden, welche später zur „DDR von unten“ Veröffentlichung führten, und dass die Wutanfaller Otze und Co in ihren Proberaum nach Leipzig einluden. Schleimkeim nahmen die Einladung gerne an. So kommt es im Juni 82 zu einem gemeinsamen Konzert im Proberaum von Wutanfall vor ca. 25 – 50 Leuten. Bewusst hatte Otze die langsamen Stücke der Band, beispielsweise die Songs „Strand der Unendlichkeit“ und „Wenn ich morgens früh aufstehe“ bei diesem Auftritt aus dem Programm genommen, da er befürchtete, dass diese zu hippiehaft bei Wutanfall ankommen könnten.
Interessant ist diese Selbstwahrnehmung des zu hippiehaften Herüberkommens von Otze allemal. Diverse Fotos des ersten Konzertes von Otze mit Kuhglocke an einer Eisenkette um den Hals und „Fresst Scheiße“-T-Shirt zeugen eher weniger von einer Band, die auch nur im Entferntesten hippiehaft wirkt oder mit Selbstzweifeln ausgestattet sein könnte.
Geraume Zeit später findet in der Lutherkirche in Halle eine von der Jungen Gemeinde Halle-Neustadt organisierte Werkstatt statt. Geladen sind Wutanfall. Otze und sein Bruder Klaus machten sich mit ihren Gitarren ebenfalls auf die Reise. Bassist Dippel blieb allerdings zu Hause. Er wollte sich kein weiteres Mal blamieren, weil er Schleimkeim musikalisch für zu schlecht hielt, um sich mit Wutanfall eine Bühne zu teilen. So jedenfalls lautet eine Aussage Otzes während eines Stasiverhörs.
Die Achse Erfurt-Leipzig
Wutanfall und Schleimkeim treffen noch mehrere Male aufeinander. Beispielsweise im Sommer 83 in Rudolstadt und in Karl-Marx-Stadt. Einzelne Bandmitglieder besuchen sich auch untereinander. Dies läuft zumeist über die Weimarer Punks, welche sowohl mit den Leipzigern als auch mit den Erfurtern gut befreundet sind. Die Erfurter gelten allgemein als Wildschweinherde, welche in der Lage sind, jede Party zu sprengen, dreckig, prollig und rau. Darum ist mancher froh, wenn sich Erfurt nicht bei Konzerten ankündigt. Vielleicht ist auch dies der Grund, warum Schleimkeim zwar als eine der Bands der ersten Stunde gelten, als diese außerhalb von Thüringen jedoch erst etwas später als ernstzunehmende Punkband wahrgenommen werden. Erst ab circa 1984/85 darf Schleimkeim auf kaum einer Punkwerkstatt im Land mehr fehlen.
Schleimkeim bestehen bis 1995 weiter und überdauern damit alle anderen Bands der sogenannten ersten Stunde. Otze als einziges, wirklich festes Mitglied der Band kreiert in den Jahren einen Sound, der bis heute fast unvergleichlich für DDR-Punk schlechthin steht. Roh, aggressiv, schnell. Vermutlich waren es auch die Bekanntschaften der ersten Tage mit Bands wie Wutanfall, die Otze dazu antrieben mit Schleimkeim jene Songs zu schaffen, für welche die Band zur Legende geworden ist.
Über den Autor
An den Stewa- Besuch kann ich mich erinnern, auch an das Werkstatttreffen in Halle. Wir sind aus Leipzig natürlich wegen Wutanfall dorthin gefahren, erst mit dem Zug, dann mit der Straßenbahn. Eine Bühne im wörtlichen Sinn haben sich WA und SK aber dort nicht geteilt. Alles an Leuten mit Punkaffinität lungerte dort irgendwie rum und wartete auf den Auftritt von WA im Gemeindehaus neben der Kirche, irgendwann am frühen Abend. Bis dahin gab es andere Aufführungen, Theater, Lesung, Musik… solches Zeug. Als ich damals in die Kirche reinging, es war mein erster Besuch auf einem Werkstatttreffen und in Kirchen war ich als Ungläubiger auch nicht allzu oft gewesen, war ich schon ganz schön überrascht. Vor dem Altar mit dem ganzen Kirchenschnickschnack stand ein Schlagzeug mit ca. zwei-drei Trommeln und einem Becken und darauf prügelte ein Typ im bemalten Unterhemd mit grüner Malfarbe in den Haaren herum. Otze. Auf den Kirchenbänken lagen auswärtige Punks lang ausgestreckt und schliefen. Es war ehrlich gesagt nicht wirklich schön oder gesellig. Es war kalt, gab nix zu essen oder trinken, eigentlich war nichts los und man befand sich an einem Ort, an dem man nicht wirklich willkommen war, den man aber auch nicht verlassen konnte, da vor dem Hofzaun die Volkspolizei herumstand und sicher jeden einzeln herauslaufenden eingesackt hätte. Otze stritt sich die ganze Zeit mit seinem Gitarristen, der dann aufgab und Otze allein einen Auftritt am Schlagzeug vollführte. Es klang natürlich in dieser hohen Kirche schrecklich, war aber auch beindruckend, mit welchem Selbstbewußtsein der Typ diesen Kirchenraum vereinnahmte und seine Schlagzeugsongparts herunterdrosch, die durchaus eingängige Punksongs vermuten ließen. Damals war ich erstaunt, dass die Kirche das mit ihren Räumen machen ließ. Ich muss aber auch sagen, dass die Leute sich sehr rücksichtsvoll mit dem Kirchenkram verhielten. Es wurde nichts beschädigt, verschmutzt oder entweiht. (Wenn man vom ungebührlichen herumlungern im Gotteshaus mal absieht.) Wutanfall spielten dann am Abend gegenüber im überfüllten Raum des Gemeindehauses auf ebener Erde (Fußboden) in einer Ecke des Raumes. Chaos hatte für den Tag, es war der erste Kirchenauftritt von WA, extra „Stürze den Papst“ geschrieben und mit WA einstudiert. So klar war uns allen als Atheisten das mit „katholisch“ und „evangelisch“ damals noch nicht. Das Konzert endete, als ein Kirchenmann den Stecker aus der Anlage zog, den Saft abdrehte sozusagen, denn WA wollten trotz Ansagen des Hausherren nicht aufhören zu spielen.
IMAD schaut wissend… 🙂