Norddamm, hinter dem Tor
Auf Seite 87 in der Neuauflage von „Haare auf Krawall“ befindet sich ein Foto aus dem Georg-Schwarz-Sportpark, aufgenommen mitten heraus aus dem Norddamm, quer hinüber zum Dammsitz und dahinter die Holztribüne. Auf dem Spielfeld ist kein Fußballer zu sehen, das Bild ist unscharf und gibt kaum Details wider. Ich habe die meisten der im Buch enthaltenen Fotos, bei denen es um die Fußballszene geht, selbst gemacht, laienhaft mit DDR-Billigkameras, ohne künstlerische Ambitionen oder dokumentarische Absichten, wie sicher viele Jugendliche, die auf ihren Unternehmungen ab und zu eine Kamera aus der Innentasche ihrer Jacken zückten.
Schlechte Fotos machen ist ja keine Kunst. Kraft meiner Einflussmöglichkeiten als Mitautor und wahrscheinlich zum Grauen der Layouterinnen habe ich diese Aufnahmen als Illustrationen in den Texten unterbringen können, in diesem Fall der vierten Auflage sogar in Farbe. Das Thema Fußball an sich in den Kanon über die Jugendsubkulturen, Schrägstrich politisch agierenden Gruppen, aufzunehmen, das hat anfänglich bei einigen sicherlich Unverständnis und Skepsis ausgelöst, aber ich wollte dieses Thema aus meinen Erfahrungen heraus einfach mit beleuchten. Schon weil ich dort integriert war und weil ich das Massenspektakel um den Fußball (also auch An- und Abreise) immer als rechtsfreien Raum angesehen habe, in dem Unheimliches passieren konnte und passiert ist… nicht immer zum Besten, aber oft sehr coole Sachen. In Leipzig gab es dazu noch diese besondere Situation, dass sich zwei Parteien gegenüberstanden, und was gibt es Schöneres für die Selbstidentifikation als einen Gegner, den man sich als Antipoden zurechtdefinieren kann. Obwohl ich natürlich wie jeder Leipziger über Schule, Beruf, Familie usw. viele Kontakte zur anderen Fußballseite hatte, war es mir über die Jahre immer eine Freude, aktiv zu polarisieren und das Gute in meinem Umfeld zu verorten. Man muss es eben nur ausdauernd genug machen, damit es Früchte trägt.
Fußballfans das waren in den Siebziger-/Achtzigerjahren in den Augen der meisten Zeitgenossen sicher unterbelichtete kindliche Fanatiker, die Zeitungsausschnitte sammelten, Sportler anhimmelten und an Spieltagen wie bei der Ziehung der Lottozahlen auf Tore hofften. Dem Fußball haftete ein Makel an. Mit politisch motiviertem Verhalten hatten das scheinbar genauso viel zu tun, wie Briefmarkensammler oder DDR-Nacktbader. Dass das Fußballumfeld mehr war als manipulierbares Herdenvieh oder rechtsverstrahlte Gewalttäter, das wurde Anfang der Neunziger deutlich, als sich überall Fangruppen organisierten, um Einfluss in der Stadion-, Sport- und Vereinspolitik zu erlangen.
Die Ursprünge Anfang der Achtzigerjahre bei Chemie werden ja in „Haare auf Krawall“ ein wenig beschrieben, Vorgänge, die jede Generation den Späteren als Traditionen hinterlässt, die dann wiederum ihre eigenen Handlugen an ihnen messen. Natürlich gibt es da auch über Polizeigewalt, Stasi und das ungerechte System zu berichten… Aber was ich mit meinen Fotos versucht habe einzufangen, war eine Momentaufnahme dieser Luftanhalte- Situation, in der die Atmosphäre knistert, wo magisch etwas in der Luft lag, von dem alle wussten, dass es gleich passiert. So etwas gibt es heute wahrscheinlich nur noch beim Fußball. Deshalb wollte ich diese Fotos im Buch haben, ebenso wie den Torschrei in Wolfen September ´81 oder den superöde Sonntag-Nachmittag-Liga- Auswärtskick in Irgendwo-bei-Leipzig, wo nur Rumblödeln und unterhaltsame Provo die Situation rettete.
Fotografiert habe ich anfangs mit Pova Start aus schwarzem Bakeltkunststoff im Mittelformat auf 8-Bilder Rollfilm (als der DDR-Film laufen lernte), oder dann einer „beirette“ Certo SL100, eine erste Kindergeburtstagkamera, bei der Eltern nichts falsch machen konnten. Die hatte ich nach einigen Jahren aus der Versenkung geholt, denn außer Hauseingang, Garten und Wohnzimmer hatte ich für die nun endlich einen Sinn gefunden. Dieses federleichte eckige Leichtplastikteil machte ganz passable Fotos, man brauchte nichts einstellen und ballerte das 24 Bilder- Magazin sofort aus der Hüfte drauflos, Beretta-mäßig eben. Das Jenabild auf Seite 88 stammt auch von der, als die Leipziger in Jena Paradies aus dem Gleisbett geworfen wurden und zu Fuß durch dicht bewohntes Gebiet bis in das Stadion laufen mussten. Dann kam dieser Park vor dem Stadion, wo es nach dem Spiel tatsächlich knallte, und dann der Einlauf ins Jenaer Stadion, wie wenn im Zirkus die Tiger kommen, nur das Gehege war von den Ausmaßen überhaupt nicht artgerecht. Und eben Wolfen, als ich auf die Sekunde genau den Abzug zu fassen bekam. Das waren schon spannende Momente damals, abwarten bis der Film vollgeknipst war, vorsichtig im Dunkeln den Film herausbasteln aus der Kamera, zum Fotografen bringen und nach ein – zwei Wochen sehen dürfen, ob die Aufnahmen was geworden waren.
Ich weiß noch wie es aus dem Bahnhof rausging und mitten auf der Straße lang entlud sich der Hass auf Wolfen. In Wolfen war mal was in der Chemiegeschichte gewesen und Wolfen war deshalb hassenswert. Man brauchte da gar nicht weiter nachzufragen, denn genaues wusste eh keiner, Wolfen, Eisleben, Dessau, solche Städte waren das eben. Wolfen, die Wolfener Einwohner, oder die Wolfener Sicherheitsorgane hatten sich wohl mal an den Chemiefans vergangen (das wurde über die Chemieseele weitervererbt…), waren also hassenswert. In meinem Zug kamen damals nicht viele Leute an, vielleicht 100-120. Man lief mittig auf der Straße, Fußweg wäre nicht angemessen gewesen, äußerte gegenüber der Stadt und den verdutzt dreinschauenden Bürgern seinen Unwillen und relativ spontan flogen die ersten Scheiben ein, recht viele, denn irgendjemand hatte einen Haufen Briketts vor die Haustür geliefert bekommen. Dann hieß es noch ein paar Stunden herumlungern in der Stadt, es war heiß, gab nichts zu trinken und alles war theoretisch verboten und wurde deshalb ausprobiert. Ich erinnere mich, dass ich da zum ersten Mal in einer Kirche war mit ein paar dutzend Leuten, wegen dem Gebimmel, die Bierflaschen kullerten auf dem Steinfußboden, die Gesangsbücher mit diesen dünnen Seiten sorgten für Unverständnis und eine nette Dame spielte uns extra etwas auf der Orgel vor. Sehr komisch, dass auch das Wolfen war.
Das Spiel dann war eben ein Spiel, bei dem es legal gegen Wolfen ging und ein Foto entstand, welches die Genugtuung ausdrückt, die die Chemiefans in diesem Augenblick gegenüber Wolfen empfanden. Und am Nachmittag ging der ganze Spaß andersherum, vom Fußballplatz zurück zum Bahnhof. Wieder mit viel Spaß, denn das Empire schlug zurück in Form eines todesmutigen Volkspolizisten in Hochwasserhosen, der aussah, als hätte er gerade eine hilflose Oma über die Straße gebracht.
Der kommandierte wohl die hiesige Stadtbesatzung und trillerte mit einer Trillerpfeife die abrückenden Fußballfans aus Leutzsch zur Ordnung, die sich dabei halb todlachten. Danach griff er zu krasseren Mitteln, nämlich einem Hund, was ebenfalls für Erheiterung sorgte und die Bahnhofsbewegung des Zuges erneut ins Stocken brachte. Ich könnte jetzt noch von diesem jüngeren Hippiemädchen berichten, welches vor dem Hund kniete, um ihn zu streicheln, aber es geht ja um dieses Leutzscher Farbfoto vom 19. November 1983. Chemie hatte sich nach drei Jahren Zwangsinhaftierung in der DDR-Liga freigekämpft und trat nunmehr der versammelten DDR-Sportelite der Oberliga mit entblößter Brust gegenüber. Karl-Marx-Stadt gehörte dabei nicht zu den attraktivsten Gegnern der bescheidenen DDR-Fußballlandschaft, zumal es gerade etwas geschneit hatte und es zugig kalt war.
Aber der Gerechtigkeit halber musste eben auch Karl-Marx-Stadt sein Fett wegbekommen, dachten 8000 Zuschauer zumindest bis zur 7. Minute, als die 1:3 Niederlage ihren Anfang nahm. Das Foto gehört zu einer Serie Diaaufnahmen, die ich damals mit einer kleinen goldenen Penti II aufnahm, 36 Bilder-Film!, die als Handwärmer wunderbar in die Hosentasche passte und damals für einen ganzen Diakasten Fotos sorgte, die über gut zwei Jahre auf Partys oder zu Feierlichkeiten unser Freundeskreis-Fußballleben farbenreich illustrierte.
In den düsteren Zeiten der Oberligaabstinenz hatten sich die Chemiefreunde, wohl der Geselligkeit wegen auf den Dammsitz postiert und über drei Jahre auf dem Norddamm eine gähnende Leere hinterlassen. In dieser Saure-Gurken-Zeit formierten sich hunderte Jugendliche, ob aus Trotz oder aus altersbedingtem Bewegungsdrang, in dutzenden Fanclubs. Diese organisierten losgelöst von jeder offiziellen Jugend- oder Sportpolitik ihre eigene Freizeit, welche sich mehr an ihren, als an den Bedürfnissen der Partei- und Staatspolitik anlehnte.
Über Fußball-Freundschaftsspiele gegeneinander, gemeinsame Feiern und Fahrten durch die Republik bildete sich ein mächtiges Netzwerk, auf das selbst die Führung der BSG Chemie keinen wirklichen Einfluss mehr hatte. Im Gegenteil war dies der Beginn, dass die Fans durch ihre Präsenz, ihre Unternehmungen und ihr republikweites Auftreten sich des Vereins und seines Namens selbst bemächtigten. Was auf den Rängen passierte, wurde also nur bedingt dem Sportbetrieb über Ordnungsdienst und Polizei überlassen, die Atmosphäre nicht geprägt von Parteiparolen und Propagandaberichterstattung, sondern durch die Rufe und Sprechchöre der Zuschauer. Der Auswärtsfahrtbetrieb und seine Sicherheitskonzepte oblagen nicht mehr der Regelungen durch Verein, Sportverband und Sicherheitskräften, sondern wurde selbstbestimmt bis durchorganisiert von den Fanclubs untereinander.
Als Chemie 1983 in die Oberliga zurückkehrte beschlossen zwei Fanclubs, West und die Peace Angels aus Großzschocher, wieder hinüber auf den Norddamm zu wechseln, um Medien und Gegnern in Leutzsch ein eindrucksvolles Ambiente vorzuführen. Viele andere Fanclubs zogen nach und das Stadion hatte seine eindrucksvolle Kulisse zurück, die den Sportpark so sprichwörtlich machte. Das Foto stammt aus diese Zeit und Situation, in der die jugendlichen Fans sich das Stadion und den Verein aneigneten, selbst bestimmten, wie es dort sein sollte. Man erfüllte weder das Image einer „lebensfrohen Background-Jubelmasse“, noch der des für neue Aufgaben kräftesammelnden Werktätigen, noch das den sozialistischen Sport feiernden DDR-Bürgers. Es wurde ein Selbstbewusstsein gelebt, Freundschaften geknüpft, Freiheiten beansprucht und damit auch Subversion betrieben, die diese Zeit für viele zu etwas Besonderem machte. Ein 1:3 spielte dabei eine untergeordnete Rolle.
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