Die Soli- Aktion in der Lukaskirche Leipzig am 15.10.1989

Kürzlich ist ein handgestaltetes Veranstaltungsplakat aus den Oktobertagen 1989 aufgetaucht. Es handelt sich dabei um einen Hinweis auf eine Solidaritäts- Aktion im Zusammenhang mit den ersten Verhaftungen um die Leipziger Friedensgebete in der Nikolaikirche. Rückblickend erinnere ich mich an diese Veranstaltung und ihre Entstehung, geboren aus einer Idee von Einzelpersonen aus dem Mockauer Keller, welche im Strudel der sich damals überschlagenden Ereignisse zu einer ersten organisierten Großveranstaltung gegen das DDR- System und die Entwicklungen auf der Straße im Frühherbst 1989 wurde.

Auf dieser Veranstaltung fanden aus der unstrukturierten Situation der Protestbewegung von 1989 heraus unterschiedlichste Gruppierungen zueinander und gestalteten den Abend in seiner Form, seinem Inhalt und seiner Außenwirkung im Selbstlauf bis in die Abendstunden während der Veranstaltung mit. Kurios ist demzufolge, dass es für diesen Abend keinen einheitlich definierten Titel gibt. Aus einem angedachten Punkkonzert hatte sich ein buntes Programm mit Zauberkünstlern, Chorknaben, klassischer Musik, Theaterleuten, Jazz bis hin zu einer spektakulären Kunstauktion des staatlichen Verbandes Bildender Künstler Leipzigs entwickelt. Folgerichtig reklamierten auch unterschiedlichste Beteiligte und Gruppen die damalige Veranstaltung für sich, so dass dieser Sonntag- Abend heute zwar noch in Erinnerung ist, durch seine unklare Deutungshoheit aber völlig in den Ereignissen von 1989 verschüttet liegt. Unterschiedliche Interpretation der Ereignisse, resultierend aus den durchaus unterschiedlichen Blickwinkeln der Mitwirkenden trugen jeweils zur Verzerrung der Ereignisse bei, so dass im Grunde alle noch existierenden Überlieferungen eben immer nur eine Teilwahrheit darstellen.

Selbstgemaltes Konzertplakat für den 15.10.89 (Archiv A. & M. Rothe)

1989 bildete sich Leipzig neben Berlin als weiteres Zentrum der DDR- Opposition heraus. Es gab Aktionen, Demos und viele Grüppchen fanden sich zusammen. Die Friedensgebete am Montag waren als Treffpunkt und Umschlagplatz für Informationen eine feste Größe. Die Leipziger Muster- Messen mit ihren Westkamerateams, die Wahlen im Mai, der Kirchentag und die Gegenveranstaltung Statt- Kirchentag, das Straßenmusikfestival, der Pleißegedenkmarsch, das alles waren öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen in Leipzig, die eine breite Oppositionsbewegung, gerade auch von Jugendlichen, an die Oberfläche brachte, welche sich kennenlernte und langsam vernetzte. Eine greifbare Oppositionsstruktur oder Gruppe, hinter die sich die Massen der Bevölkerung scharen konnte, gab es nicht. Alles verharrte für sich allein, unterhielt sich im Bekanntenkreis oder mit Arbeitskollegen und endete am Abend doch wieder nur im heimischen Stübchen vor der Tagesschau. Zu Tagen wie den Montagsgebeten, den Feierlichkeiten zum Republikgeburtstag u.ä. kamen die Leute in die Leipziger Innenstadt und warteten, in der Hoffnung, dass endlich etwas passieren würde, dass eine Bewegung in Gang kommen würde, hinter die sie sich stellen könnten. Erst mit der Gründung des Neuen Forum am 9. September schien solch eine Kraft im Entstehen, die es mit der DDR- Führung aufzunehmen gedachte.

Den Sommer beherrschten Berichte von der Fluchtwelle von DDR- Bürgern über die östlichen Nachbarländer und Botschaften. Die DDR ließ im September die einzig noch passierbare Grenze zur Tschechischen Republik schließen.

Konzert beim evangelischen Kirchentag im Sommer 89 in der Michaeliskirche (Foto: Chr. Motzer)
Defloration beim evangelischen Kirchentag im Sommer 89 in der Michaeliskirche (Foto: Archiv A. & M. Rothe)

Die Situation im Frühherbst’89 in Leipzig

Der Feriensommer 1989 wurde dominiert durch Berichte von der Massenflucht von DDR- Bürgern über die Grenzen der CSSR, von Ungarn, Rumänien, Bulgarien, sowie in die Vertretungen der Bundesrepublik in diesen Ländern. Die DDR- Oppositions- und Reformbewegung geriet gegenüber den individuell- egoistischen Bestrebungen der zunehmend aggressiv in den Vordergrund drängenden Ausreisewilligen auffällig ins Hintertreffen. Das betraf sowohl die Berichterstattung über die Westmedien, als auch die Aktivitäten der kirchlichen Gruppen, die sich der Ausreiseproblematik öffneten und deren Vertretern mit Hilfe ihrer durch die Oppositionsarbeit geschaffenen Strukturen Raum und Gehör verschafften. Der Beginn der Friedensgebete in der Nikolaikirche nach der Sommerpause, zusammenfallend mit der Eröffnung der Herbstmesse, -was hohes Westmedienaufkommen garantierte-, stand somit vorrangig im Licht der Ausreiseproblematik. Ausreiser kündigten diesbezüglich um das Friedensgebet Aktivitäten vor den Kameras der Westpresse an, sowie eine Ausreiserdemonstration durch die Innenstadt. Auch die Kirchenvertreter übten sich aufgrund der angespannten innenpolitischen Lage durch die Oppositionsbewegung und die Ausreiseproblematik in Zurückhaltung. Das Friedensgebet am 4. September um 17 Uhr stand unter dem unverfänglichen Motto „40 Jahre Überfall auf Polen“ und verschwieg bewusst die eigentlichen Motive der Mehrzahl der 2000 Teilnehmer. Nach dem Friedensgebet bestimmten dann auch vorrangig die Ausreisewilligen das Geschehen auf dem Nikolaikirchhof.

Polizei und Stasi rissen einzelne Transparente von Oppositionellen herunter, vermieden gegenüber den Ausreisewilligen jedoch öffentliche Exzesse. In der nächsten Woche sperrte Polizei die Zugangsstraßen zur Nikolaikirche mit Polizeiketten ab, um eine Menschenansammlung auf dem Nikolaikirchof zu unterbinden. Die über lange Zeit ausharrende Menschenmenge vor den Toren der Nikolaikirche wurde sowohl von den Oppositionellen als auch von der Staatsgewalt als Protestkundgebung verstanden. Etwa eine Stunde nach dem Friedensgebet verstreuten sich am 11.9. die Wartenden an den Polizeiketten und die Sicherheitskräfte räumten geräuschlos den Nikolaikirchhofplatz von den dort ausharrenden Jugendlichen, welche auf Polizei- LKW’s geprügelt wurden. Um 19.30 Uhr wurden die Polizeiketten aufgelöst, um ca. 20 Uhr verlangten einige hundert Jugendliche vor dem Polizeirevier Ritterstraße die Freigabe der Inhaftierten.

Liedtext aus dem Sommer 89 von der Leipziger Band: Der Schwarze Kanal

Polizeikräfte und Zivilbeamte jagten die Demonstranten auf das Gelände um den Schwanenteich, wo sie unter Einsatz von Schlagstöcken gezielt eingefangen wurden. Dieses erstmals offen gewalttätige Vorgehen gegen Beteiligte der Oppositionsbewegung um die Friedensgebete, wenn auch verborgen vor den Augen der Öffentlichkeit, stellte klar, dass die Offiziellen gewillt waren, mit demonstrativer Härte gegen die Opposition vorzugehen. Die Behörden verwarnten zudem die Kirchenvertreter und kündigten unverblümt Härte an. Die LVZ begann mit einer Diffamierungskampagne, sprach von Zusammenrottung und bezeichnete die Jugendlichen fortan als Randalierer, aufgeputschte Störer und kriminelle Elemente. Für die etwa 150 zugeführten Jugendlichen war diese Prügeljagd und die Inhaftierung ein erstmaliges Schock- Erlebnis. Alle Inhaftierten wurden am Folgetag bis 18 Uhr entlassen. Sie erhielten Geldstrafen von 1000 bis 5000 Mark (das monatl. Duchschnittseinkommen eines DDR- Facharbeiters betrug ca. 600 Mark).

LVZ Artikel von 1989 (Archiv Ray Schneider)
LVZ Artikel von 1989 (Archiv Ray Schneider)

Die Ereignisse am 11.9. hatten sich unter den Jugendlichen herumgesprochen und es war absehbar, dass am nächsten Montag noch mehr Jugendliche und Schaulustige in die Innenstadt kommen würden, um sich in offene Konfrontation mit der Staatsmacht zu begeben. Auf dem Friedensgebet am 18. September baten die Kirchenvertreter den Nikolaikirchplatz nunmehr nach dem Friedensgebet friedlich und schnell zu verlassen, was erstaunlicherweise von den meisten auch gemacht wurde. Dafür hatten sich hinter den Polizeiabsperrungen an diesem Tag noch mehr Leute versammelt und widersetzten sich der Auflösung durch die Polizei. Es kam zu ca. 100 Festnahmen. Gegen elf wurde Haftbefehl erlassen, von denen Einzelne in Schnellverfahren bis zu zehn Monaten Haft verurteilt wurden. Die Ereignisse gingen wie ein Lauffeuer durch Leipzig. Am Montag, den 25. September, wimmelte die Innenstadt vor Menschen. Die Polizei hatte den Nikolaikirchhof nun nicht mehr abgesperrt, da man gemerkt hatte, dass man die Konflikte damit nicht unterband, sondern nur verlagerte. Die Kirche war schnell mit 2500 Menschen gefüllt und musste geschlossen werden. Auf dem Nikolaikirchof warteten tausende Menschen. An diesem Tag fand das bekannte Friedensgebet der Menschenrechtsgruppe statt, woraufhin sich die Massen erstmals getrauten, als Demonstrationszug von ca. 7000 Leuten auf den Ring zu strömen. Man ging bis hinunter zur Fußgängerbrücke am damaligen Friedrich- Engels- Platz, wendete und ging auf der Gegenfahrbahn zum Hauptbahnhof zurück. Wahrscheinlich war man vor sich selbst erschrocken und löste sich dort am Hauptbahnhof selbst auf. Jugendliche, darunter auch Hooligans, lieferten sich um den Bahnhof bis hin zum Nordplatz Rennereien und Nettigkeiten mit der Polizei, es kam zu Festnahmen. Gegen Mitternacht fuhren erstmals gepanzerte Wasserwerfer durch die Innenstadt. Honecker warnte und forderte intern, dass sich so etwas wie am Montag in Leipzig nicht ein zweites Mal ereignen dürfte. Die SED- Bezirksleitung begann über die Arbeitsstellen der Bevölkerung schwarze Listen zu erstellen. SED- Mitgliedern wurde Sympathisantentum untersagt. Die Kampfgruppen der Betriebe wurden mobilisiert und über die Parteipresse eine Kampagne gestartet, die die Bevölkerung auf Gewaltanwendung einstimmen sollte. Aufgrund der Ereignisse waren am 2. Oktober schon ab 16 Uhr dreimal so viele Menschen in der Innenstadt und auf dem Ring. Manche Jugendliche hatten wegen der Gewaltzuspitzung in den Nachtstunden des Vormontags Helme auf. Der Demonstrationszug von 15- 20 000 Menschen durchbrach am Hauptbahnhof eine Sperrkette der Polizei, eine Doppelkette am Brühlkaufhaus wurde 20.15 Uhr aufgerieben. Erstmals zogen etwa 2500 Leute an der Stasiecke vorbei und lösten sich dann an der Gottschedstraße auf, auch weil gepanzerte Polizei von der Innenstadt her die Demonstranten stoppte. 

Archiv Ray Schneider
Archiv Ray Schneider

Mit Hundestaffeln versuchte die Polizei die Leute aus der Innenstadt zu halten, es wurde geknüppelt und verhaftet. Polizei- Mannschaftswagen mit Großgittern am Fahrerhaus, um Demonstranten abzudrängen, kreuzten auf dem Ring. Kampfgruppen umzingelten symbolisch das Rathaus, um dieses mit ihren Körpern vor den Protestierern zu schützen. Die Stimmung unter den sich auflösenden Demonstranten war euphorisch und aufgeladen. Die Staatsmacht hatte eine krachende Niederlage erlitten und sich völlig blamiert. Dann kam der 7. Oktober, der DDR- Republikgeburtstag, an dem bewehrte Polizei mit Wasserwerfern und Knüppelreihen in der Grimmaischen Straße und auf dem Karl- Marx- Platz gegen Demonstranten und Schaulustige vorging. Ununterbrochen wurden Personen verhaftet. Zwei Tage später zur Montagsdemo am 9. Oktober rechneten alle in Leipzig mit dem Ausbruch von offener Gewalt durch die Staatsorgane nach dem chinesischen Muster vom Tian’anmen Platz in Peking. Wie zum Trotz kamen 70 000 Menschen in die Innenstadt. Alle Verantwortlichen und Würdenträger bekamen das große Muffensausen, dass dies der Beginn eines politischen Aufstandes sein werde, der das SED- System hinwegfegt. Im Schulterschluss mit einigen Künstlern propagierten SED- Parteiobere und der Bürgermeister über den Stadtfunk Leipzig einen Aufruf gegen Gewalt, welcher sich an die Demonstranten richtete, in Wirklichkeit jedoch die bewaffneten Organe meinte, die sich auf ein Blutbad vorbereiteten. Diese nahmen diesen Aufruf ihrer politischen Würdenträger als Vorwand, um sich zurückzuhalten und entgegen ihrer direkten Parteibefehle nichts zu tun. Einen ähnlichen Aufruf als Handzettel verbreiteten der Arbeitskreis Gerechtigkeit, die Arbeitsgruppe Menschenrechte und Umweltschutz aus der Lukaskirche heraus an die Demonstranten, auf dem erstmalig herausgestellt die Losung „Wir sind ein Volk“ zu lesen war. Die Montagsdemo am 9. Oktober galt als Auftakt der DDR- weiten Montagsdemonstrationen und Wendepunkt zur sogenannten „friedlichen Revolution“, auch weil erstmals unglaubliche Filmaufnahmen von den Zehntausenden auf dem Ring in der Tagesschau gezeigt wurden, die in der ganzen DDR als Fanal galten.

Sonntag, 15. Oktober 1989

Archiv Ray Schneider

Der Mockauer Keller galt in diesen Tagen als offener Treff und Veranstaltungsort verschiedener Jugendgruppen. Eine feste Struktur, welche Diskussionen und Veranstaltungen durchführte, sowie Aktivitäten auch außerhalb der Kirchenräume plante, war gerade erst im Entstehen. An den Ereignissen in der Innenstadt nahmen ein Großteil der Besucher des Kellers vorerst selbstständig und unorganisiert teil. Die Erlebnisse wurden zu den Treffs im Keller untereinander diskutiert. Neugierige und Aktivisten besuchten den Keller, um Kontakte zu knüpfen und Informationen auszutauschen. So erhielt man auch die Information, dass unter den 16 Verhafteten von Mitte September auch ein Besucher des Mockauer Kellers gewesen war, Mirko Kätzel. Wir wollten etwas tun und nicht untätig bleiben. „Wir wussten, dass wir die Entscheidung, was mit den Gefangenen wird, am besten beeinflussen können, wenn wir damit richtig Rummel in der Öffentlichkeit machen. 

Mockauer Keller ungefähr Sommer 89 (Foto: Chr. Motzer)
Der Autor im Mockauer Keller ungefähr Sommer 89 (Foto: Archiv Ray Schneider)
Mockauer Keller ungefähr Sommer 89 (Foto: Chr. Motzer)

Da wir hinreichend Erfahrungen hatten, Konzerte aus dem Nichts heraus auf die Beine zu stellen, haben wir uns gedacht, ein großes Punkkonzert zu machen und dabei Geld für Rechtsanwaltskosten oder Strafgelder zu sammeln und damit ihr Druckmittel zu entschärfen. In der Punkszene war es ja üblich, durch Solikonzerte auf diverse Sachen oder Ereignisse hinzuweisen, dadurch Leute zusammenzubringen, Informationen auszutauschen und Geld aufzutreiben. Was fehlte war nur ein größerer Konzertort, denn in Mockau hatten wir wieder einmal Ärger mit der Kirchengemeinde und mussten das übliche halbe Jahr vergehen lassen, bis wieder Ruhe eingekehrt war.“ (Connie aus „Haare auf Krawall“) Ede Mayer und ich verabredeten uns und klapperten Kirchen im Stadtgebiet ab, die wir uns zuvor als möglichen Konzertort auf einem Stadtplan ausgesucht hatten. Ede Mayer war der Gitarrist der Punkband L‘ Attentat, die sich im Sommer 1989 wegen der Ausreise des letzten Gründungsmitgliedes Imad aufgelöst hatte. Die Bandmitglieder hatten sich entschlossen, unter neuem Namen als Band weiterzumachen und stellten gerade ein neues Programm zusammen. Ede war ständig bemüht, junge Punkbands an die unabhängigen Strukturen der Punkszene im Mockauer Keller heranzuführen und ihnen damit eine Alternative zum DDR- Kulturbetrieb der „Anderen Bands“ aufzuzeigen. Nach einigen Abweisungen landeten wir im Pfarrhaus der Lukaskirche und fanden bei Pfarrer Wonneberger Gehör. Anfänglich war er auch skeptisch, wen er da vor sich hatte, aber schnell taute das Eis. Er fing Feuer und überschüttete uns mit Erfolgsberichten seiner Arbeitsgruppe Menschenrechte, die in der Lukaskirche aktiv war. Das Datum der Veranstaltung wurde festgelegt und das Motto „Solidaritätskonzert“, um Geld zu sammeln und Öffentlichkeit zu erzeugen für die Verhafteten. Von nun an arbeiteten zwei Gruppen an der Vorbereitung, vorranging natürlich Einzelpersonen.

Defloration mit Klemi (2. v. re. von Der Schwarze Kanal) am 15.10.89 in der Lukaskirche (Foto: Archiv Th. Schliephake)

Als auftretende Bands hatte Mayer die Punkband „Defloration“ auf dem Plan und sein neues Bandprojekt unter dem Namen „Der schwarze Kanal“. In der alternativen Musikszene war gerade die Band „Mad Affaire“ sehr angesagt, die mit ihrer Einstufung zu den „Anderen Bands“ gerechnet wurde. Mit den Bandmitgliedern Uwe „Rotz“ Plociennik als ehemaliges Wutanfall- Drummer und Andre Friedrich von „Die Zucht“ bestanden bei „Mad Affaire“ noch Kontakte zur Punkszene und man lud die Band zur Veranstaltung ein, auch um deren bislang eher unentschlossen wirkende Szene zu motivieren, sich gegenüber den Ereignissen auf der Straße zu positionieren und aktiv zu werden.

Als letzte Band sollten ein paar Newcomer aus Eutritzsch eine Auftrittsmöglichkeit bekommen, die Band „Reinfall“.  Die Konzertorganisation von der Technik, Essenversorgung, Einlass usw. bis hin zum Auskehren wurde von den Mockauern übernommen. Die Werbung zur Veranstaltung sollten alle Beteiligten von sich aus organisieren. „Es wurden Plakate gemalt, und Leute fragten in ihren Stadtteilen in Läden nach, ob die ein Plakat ins Schaufenster hängen würden. Einige machten das sofort.“ (Connie aus „Haare auf Krawall“) Leute von der Menschenrechtsgruppe richteten innerhalb sichererer Kirchenräume ein offenes Büro ein, wo sich Leute, die um die Friedensgebete festgenommen worden waren und Strafen erhalten hatten melden konnten. Diese sollten dann mit dem Erlös der Soliaktion beglichen werden. Auch ich habe dort ein paar Dienste abgeleistet und einige Fälle aufgenommen von Leuten, die bald darauf zu dem sich neu formierenden Kreis des Mockauer Kellers stießen. In diesem Büro wurden ein dutzend A2 Plakate in Blockschrift und mit Filzstiften ausgemalt handgefertigt, die dann verteilt wurden. Ich selbst habe eines in der Bäckerei in der Lützner Straße- Nähe Radiusstraße aufhängen können und im Buchladen Straße des Komsomol- Nähe Schwarzestraße. Fast alle Ladenangestellten waren sehr offen dafür, denn alle Leute hatten sichtbar die Schnauze voll, von den Zuständen im Land. Schnell meldeten sich weitere Kulturschaffende und Künstler, die entweder angesprochen worden waren oder sich selbst meldeten, weil sie etwas beitragen wollten. Schließlich hieß es, dass sich auch die bildenden Künstler vom Leipziger Kunstverband mit einer Auktion anzuschließen gedachten, also die ganzen berühmten Namen der Leipziger Maler mit einem riesigen Rattenschwanz ihrer Jünger, Kunstliebhabern und Geldsäcken. Der VBK Leipzig hatten erst ein paar Tage zuvor in einem offenen Brief an den Kulturminister zur Lage im Land Stellung bezogen und mit unserer Soliaktion nun die Gelegenheit, praktisch etwas beizutragen. Auch aus dieser Richtung liefen nun die Vorbereitungen auf Hochtouren, ganz ausgerichtet auf die Versteigerung von Werken namhafter DDR- Künstler des Künstlerverbandes.

Künstler Judy Lybke bei der Versteigerung von Bildern am 15.10.89 in der Lukaskirche (Foto: Archiv Ray Schneider)

Am Sonntag- Nachmittag öffneten wir die Lukaskirche und eine Unmenge von Menschen aller Coleur strömte herein. Unser Zeitfenster war von der Gemeinde von 19 bis 22 Uhr festgelegt worden. Nach polizeilichen Vorgaben musste ab 22 Uhr Ruhe herrschen. Das war unumstößlich. Am Eingang standen die Mockauer Punkmädchen mit Klingelbeuteln und Spendenbüchsen, in die Scheine für Scheine wanderten. Einigen von den Mockauern blieben die Münder offen stehen, was für große Scheine da von den Leuten gespendet wurden. Anwohner kamen mit der ganzen Familie, wandten sich an die Punker, welche sie als Veranstalter und somit Vertrauenspersonen ausmachten, und schütteten ihnen ihre Herzen aus über die Dinge, die sie erlebt hatten oder die sie an der DDR aufregten. Hinter der Bühne, also dem Platz in der Kirche, wo der Pfarrer seine Reden hält, entwarf ich ununterbrochen neue Ablaufpläne, denn es stellte sich heraus, dass sich immer neue Künstler meldeten, die ins Programm aufgenommen werden wollten. „Schließlich zog das solche Kreise, dass da ein ganz buntes Programm draus wurde, mit allen möglichen Künstlern und mit einer Kunstauktion. Zauberkünstler traten auf, Liedermacher, es gab Jazz, Theater, und Leute vom Thomanerchor traten auf. Am Schluss spielten drei Bands. Es waren so viele, dass jeder nur zehn Minuten auftreten konnte. Leipziger Künstler haben Werke zur Versteigerung gespendet, Wolfgang Mattheuer und so, und es waren sehr viele Galeristen und Kunstliebhaber da, die da zu Bildern gekommen sind.

Originalzettel vom Ablauf der Veranstaltung...... (Archiv Ray Schneider)
....der ständig überarbeitet werden musste. (Archiv Ray Schneider)

Das Doofe war, dass sie uns mit dieser Versteigerung etwas die Show gestohlen haben. Wir wollten ja dort viele Leute zusammenbringen, damit die auch außerhalb der Kirche etwas gemeinsam machen. Es ging nicht nur um das Geld. Wir haben extra ein paar Texte von Punkbands ausgehangen, weil die eben schon mal Klartext gesprochen haben, aber die einzigen drei Punkbands des Abends spielten dann erst ganz am Schluss. Gut war natürlich das Geld. 16 000 Mark waren zusammengekommen. Überall in der Geschichtsschreibung liest man nun: ‚Die Künstler von Leipzig haben sich zusammengetan…‘, was gar nicht stimmte. Das haben wir gemacht, die Mockauer Leute.“ (Connie aus „Haare auf Krawall“) Die Auktion veranstalteten wir dann in zwei Runden, denn viele Leute waren ja aus Solidarität mit den Verhafteten gekommen. Judy Lybke von „Eigenart“ als Versteigerer war sauer, dass wir irgendwann die Auktion abbrachen und argumentierte, dass wir noch viel mehr Geld hätten einnehmen können. Der hatte unser Anliegen, welches über das Geld hinausging, nicht ganz verstanden. Bei allen Beiträgen des Abends brandete tosender Beifall auf, nicht wegen der Darbietung, sondern aus Prinzip. Alle Kulturleute waren sehr diszipliniert, sagten ein paar Worte und zogen ihren Auftritt durch. Traurigerweise mussten wir den Jungs von der Band „Reinfall“ und einigen sehr spät gekommenen Künstlern ebenfalls absagen, denn die Zeit war einfach zu knapp bemessen. Zum Ausklang hatte dann „Der schwarze Kanal“ mit seinen neuen Liedern seinen ersten Auftritt, danach „Mad Affaire“ und „Defloration“.

Mad Affaire in der Lukaskirche am 15.10.89 (Foto: Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V./ Bernd Heinze)
Der Schwarze Kanal in der Lukaskirche am 15.10.89 (Foto: Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V./ Bernd Heinze)
Defloration in der Lukaskirche am 15.10.89 (Foto: Archiv Th. Schliephake)

Zumindest wir aus dem Mockauer Keller waren in der Nacht euphorisch. Der Abend war ein Riesenerfolg gewesen. Unsere Veranstaltung hatte klar Stellung bezogen gegen die Zustände in der DDR, die zu den Verhaftungen geführt hatten. Wir hatten nicht herumgedruckst wie manche Kirchenleute bei den Friedensgebeten oder die Künstler vor ihren Oberen, sondern klar Stellung bezogen. Wir hatten das Gefühl, dass auch viele Besucher mit dieser Haltung die Veranstaltung verlassen hatten.

Doch dieses Hochgefühl wurde schnell abgelöst vom darauffolgenden Montag, an dem 120 000 Demonstranten erstmals um den gesamten Ring herum zogen. Spätestens jetzt war allen klar, dass sich die Uhren nun nicht mehr zurückstellen ließen, dass sich in der DDR bald etwas ändern würde.

Die Ereignisse des Herbstes ‘89 überschlugen sich fortan. Eine Sensationsmeldung jagte die andere und die Soliveranstaltung in der Lukaskirche war schnell vergessen. Einige Gelder von der Soliaktion wurden wie geplant zur Deckung von Ordnungsstrafen von Verhafteten verwendet.  Mit den sich ändernden Verhältnissen wurden schließlich alle Gefangenen freigelassen und die Verfahren eingestellt.

1990 wurde auf allen Ebenen das ganze Land umgewälzt. Die kleine Szene aus dem Mockerauer Keller trat auf die Straßen heraus, erhielt Zustrom von vielen neuen Menschen und wurde bald zu einer großen Bewegung, die sich auf den Reaktionskonzerten traf, gegen den Golfkrieg protestierte oder in Alt- Connewitz eine eigene alternative Lebenswelt aufbaute. 1992 bildete sich nach Häuserkämpfen in Connewitz eine Art Szene- Ermittlungsausschuß, das „Koordinierungsgruppenbüro“, welches Verhafteten half, Prozesse begleitete, Kontakt mit Anwälten hielt und im eigenen Sinne Öffentlichkeitsarbeit betrieb. Die Reste der Spendengelder aus den Herbsttagen 89 flossen zusammen mit anderen Spenden aus Soliaktionen in deren Hilfskasse.

 

Ray Schneider