Dass die Leute es als ihr eigenes Ding begreifen! – Interview mit einem der Autoren von Haare auf Krawall - Ray, September 2020
Hallo Ray. Was war damals eure Intention Haare auf Krawall zu machen?
Für mich selbst kann ich sagen, dass ich Mitte der Neunziger eine bedenkliche Entwicklung in Connewitz sah. Ich war ja dort in verschiedene Gruppierungen involviert. Viele aus der Wendegeneration hatten ihre Studien abgeschlossen und begannen sich beruflich und familiär neu zu orientieren. Die Szene war damals nach 1990 strukturell auch noch nicht so entwickelt, dass Ältere dort Möglichkeiten fanden, für sich anspruchsvolle Lebensperspektiven zu finden. Es war ein Umbruch und ein Wandel vollzog sich unter den Leuten. Eine neue Generation kam nach, die zwar die Sachen der Älteren kannte, als gegeben ansah. Die waren noch nicht so richtig involviert, vielleicht in ihren Aktivitäten und Diskussionen nicht dort angelangt, wo die Älteren sich mit ihren Sachen befanden oder vielleicht hatten sie auch andere Ansprüche.
Irgendwie klaffte da ein Loch. Durchaus auch eine Wissenslücke über Traditionen, Verantwortung und bereits gemachte Erfahrungen. Es hätte passieren können, dass viele erkämpfte Sachen sich durch den Generationenwechsel auflösten, für immer verloren gingen. Dazu kam, dass in dieser Zeit viele Seiten in der Gesellschaft begannen, über ihre Rolle oder die von anderen in der Wende zu reflektieren. Leute schrieben über die Szene, obwohl sie teilweise gar nicht daraus kamen. Da wurde z.B. auch oft versucht, eine westliche Sichtweise auf die Szene und die Entwicklungen anzusetzen, wurden Schubladen mit Linke, Autonome und Punks im Osten beschriftet. Es war zu erkennen, dass hier etwas vor sich ging, dass uns die eigene Geschichte aus der Hand nahm.
Um diese Zeit wurde ich gefragt, ob ich für das Buch „Wir wollen immer artig sein“ einen Beitrag über Leipzig mitverfassen könnte. Dabei habe ich gemerkt, dass die Sache in dieser Form, mit den kurzen Kapiteln über die Städte, gar nicht so richtig dargestellt werden kann. So habe ich mir überlegt, dass wir selber etwas machen müssten. Vor allem auch um es selbst in der Hand zu haben, wie man definiert sein möchte. Auch, um ein Bewusstsein dafür in der Szene zu schaffen. Eben, dass die Leute es auch als ihr eigenes Ding begreifen. Mit aller Tradition und Verantwortung. Connie und ich kannten ja viele Leute, weil wir selber zur Szene gehörten. Die haben wir angesprochen. Aber eben nicht als Journalisten, sondern als Freunde. Wir setzten selbst die Schwerpunkte und haben die Leute jeweils nach bestimmten Themen und Ereignissen befragt, Stück für Stück das Buch zusammen gepuzzelt.
Also war das Ziel von Haare auf Krawall, die Geschichte einer jüngeren Generation weiterzuerzählen?
Überhaupt erst einmal zu erzählen! Es gab ein paar Überlieferungen, die als Anekdoten erzählt wurden. Aber keiner wusste etwas Genaues. Beispielsweise über Wutanfall oder über die Beatkrawalle von 1965. Erich Loest hat mal was in einem Buch darüber geschrieben und vielleicht auch irgendein Bürgerbewegter. Aber aus der Sicht von uns, also der radikalen oder libertären Szene gab es keine Erzählung über diese Zeit. Wir haben Bausteine gesetzt. Es gab von uns einen Plan, was erzählt werden sollte, was zu unserer Geschichte gehört, welche Ereignisse über Personen, Inhalte oder Orte verknüpft sind. Insgesamt hat die Arbeit ungefähr 3 Jahre gedauert. Im Juni 96 hatten wir angefangen und 1999 kam das Buch heraus.
Ist euer Plan so aufgegangen wie Ihr es euch vorgestellt habt?
Indem wir direkt unsere Geschichte definierten, haben wir etwas ganz Neues gemacht. Vielleicht nicht vollständig, aber erstmals eine Kette von Ereignissen als zusammenhängende Entwicklung beschrieben. Es taucht unter anderem kein Heavy Metal auf. Der Grund dafür ist, dass wir zu denen keine Kontakte hatten. Von daher ist das Buch sicher subjektiv. Aber wir haben die Ereignisse um uns herum für uns in eine Linie gesetzt und dadurch festgelegt. Im Nachhinein gab es natürlich auch Kritik von Interviewpartnern, die sich beispielsweise nicht in einer Linie mit Fußball oder den Antifakämpfen der 90er gesehen haben. Das mag stimmen, aber wir haben es so gemacht. Wenn das jemand anders sieht, kann er ja auch gerne ein Buch schreiben und das für sich berichtigen. Wir verstanden uns nicht als Geschichtsschreiber, die versucht haben, objektiv auf die Sache zu schauen, sondern es ist unsere Sicht mit der Verantwortung gegenüber den Protagonisten, auf freundschaftlicher Basis.
Wie habt Ihr einen Verlag gefunden der das Buch gedruckt hat? Es ist ja kein gefügiger Stoff.
Connie und ich waren damals wirklich sehr naiv. Also kümmerten wir uns zuerst um den Inhalt und haben das Produkt gemacht, wie wir das wollten. Als es dann fertig wurde, überlegten wir, was für Verlage für uns denn in Frage kommen würden und haben einige angeschrieben. Von manchen wurden wir nett abgelehnt und andere haben uns blöd angemacht, was wir uns einbilden würden und wer wir überhaupt wären. Schließlich sind wir bei Peter Hinke gelandet, weil wir ihn durch seine Verlagsbuchhandlung flüchtig kannten. Er hatte gerade ein ähnliches Projekt in Planung und dachte er könnte uns zusammenbringen, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Es war ein Projekt mit der Fotografin Christiane Eisler. Sie wollte gerne ihre Fotos rausbringen und brauchte dazu noch etwas Text. Und dann kamen wir mit 2 Kilo Papier und haben das dort auf den Tisch geknallt. Peter Hinke sah Schrift und kombinierte, dass das gut zusammenpassen könnte. Er hat dann versucht, Christiane und uns an einen gemeinsamen Tisch zu bekommen. Wir kannten uns vorher schon etwas. Aber wir haben schnell gemerkt, dass wir unterschiedliche Vorstellungen davon hatten, was wir machen wollten. Es passte nicht zusammen. So haben wir dann unser Projekt gemacht und Christiane hat später ihr eigenes Buch herausgebracht.
Ziel war es, das Buch 1999 zum Jahrestag herauszubringen. Es war ja absehbar, dass die Stadt die Ereignisse um die Wende als Marketingsache verbrät. Wir wollten aufzeigen, was unsere Sicht der Dinge ist. Heutzutage ist das ja klar, dass die ganze Wendegeschichte nicht allein von der Kirche oder irgendwelchen Bürgerbewegten ausging, sondern gerade auch von Oppositionellen, Langhaarigen, Punks, Anarchos, Jugendlichen etc.
Es kam eben alles zusammen. Unsere Bewegung ist damals sehr schnell rausgedrängt worden und hat sich ihren eigenen Platz gesucht. Die, die dann damals Ende der 90er ihre Geschichte geschrieben haben, waren die Bürgerrechtler. Die haben die Medienlandschaft ausgefüllt. Unsere Szene war da völlig ausgespart. Sie existierte nicht. Das wollten wir ändern.
Warum wurde die Szene damals so ausgespart, wie du sagst?
1999 waren wir noch sehr unter uns. Wir mussten also ziemlich rudern, um irgendwie mal in die Zeitung zu kommen oder mal irgendwo erwähnt zu werden. Denn diese, unsere Art der Aufarbeitung wollten nicht alle. Die Offenheit für diese Rubrik war noch nicht da. Die, die damals die Kontakte zu den Medien hatten, Journalisten, Politiker, Bürgerrechtler, die kannten uns auch gar nicht. Die hatten uns höchstens aus der Ferne wahrgenommen. Was ihnen über Leute wie uns bekannt war, kam aus den westlichen Schubladen und wurde dort eingeordnet in Begriffe wie Alternative oder Autonome. Diese Bezeichnungen hatten wir uns so absolut aber gar nicht auferlegt und haben sie auch nicht als Abziehbild vom Westen gewollt. Viele von uns haben sich erst im Nachhinein informiert, was für Wurzeln die Szene hat, worauf sie sich beruft oder bezieht. Ich freue mich, dass unser Buch auch einen Teil dazu beigetragen hat, dass sich das Geschichtsbild inzwischen verschoben hat. Es ist gut, dass es angekommen ist, dass es damals eben nicht alles kleine Biermänner, sondern ganz normale Jugendliche waren. 1999 hatte da die Kirche noch das Monopol auf die Geschichtsschreibung. Wir waren Außenseiter, eine Nische, die es halt auch geben durfte in der westlichen Vorstellung von Freiheit. Jetzt ist das anders. Jetzt schreiben viele aus unserer Szene selbst Geschichte und rücken die Dinge gerade.
In der neuen Auflage gibt es auch 3 Kapitel, die nicht im Originalbuch waren. Warum wurden sie damals entfernt?
Wir hatten uns ja nie Gedanken gemacht, wie man das Buch verkaufen kann und so weiter. Peter Hinke empfahl uns damals, das Buch aus verkaufstechnischen- und Kostengründen vom Umfang her zu verschlanken, weil es sonst in höhere Preiskategorien beim Verkauf gehen würde. Wir hatten solche Gedanken beim Erstellen zwar nie gehabt, aber von der Logik her leuchtete es uns ein, dass dies ein Problem werden könnte. Nun haben wir überlegt, wie wir das machen könnten, ohne unsere Geschichte zu gefährden, denn alle Texte hatten ja einen Grund, warum sie ins Buch sollten. Also haben wir schließlich gesagt, wir müssen uns von den Texten lösen, die eventuell Überschneidungen haben.
Trotzdem ist da etwas weggefallen, was wir gerne aufzeigen wollten. Es hatte also nichts damit zu tun, dass die Texte weniger gut waren und uns ist es auch sehr schwer gefallen, weil es ja alles Freunde waren, denen wir das auch vermitteln mussten. Aber es ist eben so gewesen. Umso schöner ist es eben jetzt, dass es nun so auftaucht, wie es gedacht war. Das macht das Buch rund. So wie wir es uns gewünscht hatten.
War es eigentlich Absicht, dass es in den bisherigen Ausgaben keine Bildunterschriften gab?
Wir hatten eigentlich beim Layout den Wunsch gehabt, dass die Fotos die Texte nur bebildern, eher eine Stimmung erzeugen sollen, wie in einem Punkfanzine. Es ging nicht so sehr um die Bilder als Dokumente oder Kunst. Diese Vorstellung war damals aber leider nicht zu realisieren. Zum einen, weil es noch nicht die Technik und die Programme dazu gab und zum anderen, weil wir nicht die Leute dazu hatten, die so etwas gut genug umsetzen konnten. Heute gibt es die Technik und es sind die Leute da, die ein Verständnis dafür haben, wie ein Punklayout aussehen könnte, dass ohne zu chaotisch zu wirken trotzdem noch die Buchform beibehält. Jetzt sind die Bilder so gesetzt, dass sie eher als Fotografie für sich stehen. Die Entscheidung dazu machte es dann notwendig, dass man etwas dazu sagt. Damals waren für die Leser aus der Szene auch noch viele Sachen klar und kamen ohne Unterschriften aus. Inzwischen sind die Bilder historisch.
Die letzten Kapitel behandeln sehr stark die Naziüberfälle Anfang der 90er in Leipzig. Was ist deine Erklärung für diese Entwicklung?
Wenn man das Buch liest, ist es verblüffend, dass zwar die Naziüberfälle erst in den letzten Kapiteln sind, es sich aber durch den kompletten Kanon durchzieht. Also, dass Leute sich wie Nazis benehmen, Subkulturelle aufhängen oder vergasen wollen. Die Stasi fuhr Leute in den Wald, um sie zu verprügeln und es wurden Lager geschaffen, in denen Menschen inhaftiert wurden. Dieses Nazi- Verhalten war überall präsent. Es ist also kein Wunder, dass Anfang der neunziger Jahre die breite Masse nichts dazu gesagt hat, als ihre Kinder begannen, Asylheime anzubrennen. Denn das haben die ihren Kindern mitgegeben, dieses Denken. Und die Kids haben einfach gesagt, wir machen das jetzt. Unsere Alten sind Schlappschwänze. Wir zünden Connewitz an, räuchern Linke aus oder klatschen ein paar „Neger“ auf. Die haben das gemacht, was ihnen durch ihre Eltern zu DDR Zeiten vorgelebt wurde, auch ohne Hakenkreuz auf der Stirn.
Was für Auseinandersetzungen habt Ihr mit dem Buch erlebt?
Wir haben natürlich viele Lesungen gemacht. Und dort gab es immer Diskussionen. Eben immer um dieses Schubladendenken. Beispielsweise über die Gewalt in Connewitz: „…wenn man sich ordentlich benehmen würde, könne man dort doch auch alles erreichen…“ Diese Diskussionen hatten wir, aber die konnten wir nicht lösen. Auch mit dem Buch nicht. Es ist ja heute noch genau so, dass Leute rumheulen darüber, wie Menschen für eine gute Sache einstehen wollen und sich auf diese Art benehmen. Das sind die gleichen Gründe und die gleichen Probleme, die vor 20 und vor 30 Jahren da waren. Wer ein bisschen fit im Kopf ist, schaut einfach mal zurück. Ich finde es traurig, weil die Medien oder auch die Stadtväter das zu wenig machen, sich fragen, warum hier das gleiche Ding abläuft und sich nichts geändert hat. Ein Haus wird ja nicht besetzt, weil man sich ins gemachte Nest setzen will, sondern weil mit Wohnraum spekuliert wird, obwohl er gebraucht wird. Das war damals genauso wie heute. Wenn einem nicht aufgezeigt wird, wie man auf legalem Weg, vielleicht mit Fleiß und Engagement seine Bedürfnisse befriedigen kann, dann bleibt ja nur der Ausweg sich eigene Wege zu suchen, sich auf einen Kampf einzulassen. Und darum geht’s ja immer. Das sind Leute, die dort leben wollen – ihre Projekte machen wollen, Kinder kriegen, mitgestalten. Wenn das nicht geht, bleibt ja nur, sich das zu erzwingen. Es ist nicht so, dass man durch Kampf alles erreicht, aber Aufmerksamkeit kann man dadurch erzielen, um diejenigen über die öffentliche Diskussion unter Druck zu setzen, die etwas daran ändern können.
Der Leipziger Oberbürgermeister hat bei den neusten Ereignissen ja den Satz gesagt: Steine werfen schafft keinen Wohnraum! Damit meint er ja explizit Gewalt auf der Straße.
Von Gewalt bin ich auch kein Freund. Aber treib eine Katze in die Enge. Irgendwann springt sie dich an. Gerade Oberbürgermeister Jung als oberster Verwalter sollte seine Stadt und seine Geschichte doch kennen. Wenn sein Gedächtnis nicht 20 Jahre zurückreicht, dann gibt das kein gutes Bild ab, dann sieht Jung alt aus. Mich ärgert es, dass es so viele Leute akzeptieren, wenn er sich hier blöd stellt.
Er sollte sich lieber selbst fragen, warum es dieses Problem immer noch gibt und es nicht gelöst ist. Es geht ja ums Prinzip, dass Wohnraum Objekt der Spekulation ist. Ob man deswegen Polizisten umkloppen und Mülltonnen anzünden muss, weiß ich nicht. Aber dass man durch solche Aktionen eher in die Bildzeitung kommt, als durch Kerzen anzünden, ist mir auch klar.
Eine Frage höre ich immer wieder. In vielen Texten ist ja Imad als Szeneaktivist erwähnt. Warum ist er nicht mit einem eigenen Text drin?
Imad war damals in Leipzig ein wichtiger Protagonist. Als das Buch erschien, war er auch noch in verschiedenen Projekten aktiv. Wir hatten Probleme, weil er als Motor und Wortführer der Szene ein besonderer Fall war, was Vertrauensbruch betrifft. Einmal wegen seiner Stasivergangenheit, aber auch unter Freunden. Sicher gibt es da auch viele andere Menschen mit ähnlichen Verhaltensweisen. Die setzen sich aber auch nicht an die Spitze einer Bewegung, reißen das Maul auf und erfüllen dann die eigenen Ansprüche nicht. Trotzdem haben wir ihn angesprochen und ihn gefragt, ob er sich äußern würde. Ich denke, es wäre auch eine Chance für ihn gewesen, seine Stasivergangenheit mal offenzulegen. Andere haben das ja im Buch ansatzweise genutzt. Wir haben uns damals mit ihm getroffen, denn wir waren ja gute Freunde, bevor das alles passiert ist. Man verzeiht sich dadurch ja auch einiges. Aber er wollte sich nicht äußern. Einige Jahre später kam er dann und wollte es doch, aber da war das Thema für uns vorbei.
Er hat damals seine Chance nicht wahrgenommen. Das Kapitel konnten wir im Buch nicht abarbeiten. Damals haben wir noch gedacht, dass wir ihn nicht aus der Geschichte raus lassen können. Heute bin ich froh, dass Imad im Buch nicht drin ist, denn es hat sich gezeigt, dass alles auch ohne ihn abgedeckt ist durch andere wichtige Leute. Heute ist Imad nur noch wegen seiner persönlichen Geschichte interessant und bleibt in Erinnerung wegen seines Vertrauensmissbrauches und des Verrates. Das ist traurig, aber er hat es selbst so gewählt.
Hast du ein besonderes Ereignis durch das Buch erlebt?
Diana, mit der ich gemeinsam meine beiden Kinder habe, hat damals an der Uni Leipzig ihre Diplomarbeit zum Thema Wutanfall und L‘Attentat geschrieben. Durch ihre Recherche ist sie über das Buch mit mir in Kontakt gekommen. Auch wenn das nicht so ganz zu den kämpferischen Ausführungen weiter oben passt, beschreibt das für mich persönlich irgendwie das besondere Ereignis, welches ich damit verbinde.
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