Wir brauchen alle Leipzig Indianer

Bearbeitete die Stasi eine Person oder eine Gruppe, bestand eine der wichtigsten Aufgaben darin, verwertbares Beweismaterial zu sammeln, welches der Kriminalisierung oder gar einer Verurteilung dienen konnte. Im Falle von Bands waren dies natürlich im besonderen Maße die Texte, die auf eventuelle Staatsfeindlichkeit überprüft werden konnten. Bei Wutanfall hatte ein IM bereits Ende 1981/Anfang 1982 ganze 13 Texte säuberlich mit Schreibmaschine abgetippt und beim MfS abgeliefert. Strafrelevant waren diese jedoch alle nicht. Daher versuchte  die Stasi händeringend, weitere Texte und eine Aufnahme der Lieder zu bekommen. IM „Thomas Schwarz“ aus Halle wurde mit diesem Auftrag gleich mehrfach nach Leipzig geschickt. Jedes Mal wurden Aufwandsentschädigung und Fahrtkosten erstattet. „Thomas Schwarz“ scheiterte allerdings an Zappa, dem Bassisten der Band. Mal ist dieser nicht zu Hause, mal ist die Wutanfallkassette verborgt, mal gibt es keine Überspielmöglichkeit.

Wutanfall im Proberaum Sternwartenstraße 55 HH ca. 1982

IMS „Borstel“, der sich selbst lieber den Decknamen „Rotten“ wählt, weiß währenddessen zu berichten, dass Wutanfall angeblich auf dem LP- Sampler „Soundtracks zum Untergang 2“ in der BRD veröffentlicht wurden. In Wirklichkeit handelt es sich bei den Interpreten des Songs „Religion“ auf der Scheibe jedoch mitnichten um die Band Wutanfall, sondern vielmehr um die Böhsen Onkelz. IM „Jonny Rotten“ (ein anderer Rotten) aus Niesky will gleich von einer kompletten Wutanfall-LP in der BRD Namens „Monarchie und Alltag“ (in Wirklichkeit Fehlfarben) gehört haben. Die Aufnahmen dazu sollen in den Westen geschmuggelt, und dort professionell aufgearbeitet worden sein. Natürlich hat „Jonny Rotten“ die Platte nicht im eigenen Besitz.

Chaos, welcher als Sänger von Wutanfall ab einem gewissen Zeitpunkt wöchentlich bei der Stasi vorgeladen ist, wird schließlich gezwungen, eine Kassette seiner Band abzugeben. Dieser überspielt aber vor der Abgabe die kritischen Stellen der Songs mit dem Radioprogramm, so dass die Genossen beim Auswerten des Tapes statt staatsfeindlicher Parolen Gerhard Schönes Kinderland zu hören bekommen.

Auswertung der von Chaos abgegebenen Kassette mit Radioüberspielungen. BStU, MfS, BV Lpz., AOPK, Nr. 1644/86, BD 1, S. 166 & 167

IM „Berry“ aus Berlin wird ebenfalls mit der Aufgabe betraut, endlich einen Mitschnitt von Wutanfall zu besorgen. Auch er benötigt mehrere Anläufe, schafft es aber schließlich, an eine Kassette heranzukommen. Jedoch ist die Qualität des Tapes so schlecht, dass es für die Stasi unauswertbar ist und gar nicht erst in die Sammlung des MfS aufgenommen wird. Um wenigstens etwas liefern zu können, macht sich IM „Berry“ selbst ans Werk und liefert beim nächsten vereinbarten Treff einen abgehörten Song von Wutanfall ab:

BStU, MfS, BV Bln., AIM 3772/89, Teil II, S.50.

Wir brauchen alle Leipzig Indianer

oh Leipzig euer Nevada

wahre Punks-dein Image lebt

einsame Punks aber Leipzig lebt

Messestadtpunk, Messestadtpunk…..

Proberaum und alles in Ordnung

große Worte-FDJ

längst verbannt und in sich verfault

Messestadtpunk……

Instrument, dein hauen geht ein

in verfallene Häuser-Leipzig lebt

Hole doch mal dieses Gerät und zeige uns

die Klampfe singt

Messestadtpunk……

Mit Wutanfall im Pogotakt

lustig bis zum Herzinfarkt

das haut rein und jeder staunt

verursacht ist ein Land in Brand

Messestadtpunk…..

Wir sind die graue Feuerwehr

aus der schönen DDR

wir fackeln überall Feuer an

Leipzig brodelt, es geht voran

Das „neue“ Meisterwerk findet auch Einzug in die „OPK Stern“, der Leipziger Akte über Wutanfall. Ob die Genossen jemals herausbekommen haben, dass es sich dabei in Wirklichkeit um den bereits enthaltenen Song „Messestadtpunk“ handelt, ist unbekannt.

Originaltext Messestadtpunk 1981

Trotz aller Bemühungen ist es letztlich dem MfS nicht gelungen, alle Texte von Wutanfall zu erfassen. Als die „OPK Stern“ 1986 geschlossen wird, ist nicht einmal die Hälfte des Repertoires der Band notiert. Ein Zeichen, dass die Stasi eben doch nicht alles wusste.