Fahnenflucht
Der Kanon der Erzählungen in den bisherigen Ausgaben „Haare auf Krawall“ und auch in der neuen Auflage endet mit der Geschichte von Folker, die etwa 1988 ansetzt und ca. 1992 endet. Die einzelnen Kapitel im Buch haben ja nur einen losen Zusammenhang und lassen sich problemlos einzeln und auch losgelöst voneinander lesen und so kommt es, dass Folkers Bericht eher aus chronologischen Gründen am Schluss des Buches gelandet ist. Folker erzählt anfänglich, wie er zu politisch agierenden Leuten gestoßen ist, wie er in den Wendewirren in den Strudel der Ereignisse hineingezogen wurde und sich schneller als gedacht als einer der Akteure wiedergefunden hat, der Häuser besetzt, tagsüber instand setzt und nachts gegen Faschoüberfälle verteidigt.
Bei unseren Befragungen, aus denen dann in der Entstehungszeit von „Haare aus Krawall“ der erzählende Text entstanden ist, haben wir auf ein besonderes Thema abgeziehlt, mit dem Folker 1990/91 als einer der ersten aus unserer Szene auf ganz spezielle Weise konfrontiert wurde, der Einberufung zur Armee. Dabei war dies nicht die bislang normale Armee NVA, zu der alle Jungs im geeignetsten Alter ihrer Entwicklung zwischen Loslösung vom Elternhaus und dem Erreichen wirtschaftlicher und geistiger Unabhängigkeit geholt wurden, sondern es war kurioserweise das genaue Gegenteil, der Grund, warum es die NVA angeblich überhaupt gegeben hatte, die Bundeswehr.
Sang und klanglos, wurde nun die Armee als gottgegebene Notwendigkeit hingestellt, zu der jeder Mann verpflichtet war. Über Aufgaben, Ziele und Gründe wurde in der Zeit des Zerfalls des Ostblocks und der Abrüstung ausweichend geredet, sog man sich arabische Terroristen, muslimische Fundamentalisten u.ä. aus den Fingern, gegen die die freie Welt verteidigt werden sollte.
Da Folker in unseren links-libertären Kreisen mit den Themen um Armee und Militarismus, die Lösung von innenpolitischen bzw. globalen Problemen mit Gewalt bzw. militärischen Mitteln ununterbrochen konfrontiert war, war Militärdienst für ihn und seinen Freundeskreis keine Selbstverständlichkeit, eher ein Relikt der Vergangenheit, welches genau in dieser Zeit überwunden gehörte.
Für ihn war es ein Unding, dass er direkt aus den Turbulenzen der politischen Ereignisse auf den Straßen Leipzigs, in denen jeder Einzelne durch sein Handeln die Veränderungen mitgestalten konnte/musste, dass er aus den Konflikten mit Polizei, Behörden und Neonazis um die Verteidigung von selbstgeschaffenen und selbstbestimmten Freiheiten, aus dem Häuserkampf der Enklave Connewitz heraus, die sich gebildet hatte, weil die einzelnen Projekte in den Stadtbezirken platt gemacht wurden und man sich in Connewitz erstmals gemeinsam als Viertel zu verteidigen begann, dass er in dieser Situation einem lächerlichen Kostümverein mit antiquierten Ansichten und unethischen Handlungen beitreten sollte. Zudem war am Golf gerade ein Krieg ausgebrochen, der von vielen als ein Krieg um Öl definiert wurde und bei dem die Bundeswehr durch ihre Bündnisverpflichtungen automatisch zum Gehilfen wurde.
Folker, unser späterer „Szenedrucker“, hat selbst Flyer gegen den Krieg entwickelt, eigenhändig gedruckt und mit vielen anderen in den Stadtbezirken verklebt. Als er seine Einberufung erhielt, war es für ihn nicht nur eine persönliche Entscheidung, sondern sein ganzes Umfeld schaute auf ihn. Diese Verantwortung begleitete ihn wohl die ganzen Jahre, die er fahnenflüchtig unter uns weitermachte, ständig verfolgt von Polizei, Spitzeln und den Feldjägern. Sein Beispiel wollte ich damals bei der Planung unseres Buches unbedingt mit dabei haben, weil das Thema uns alle betraf, und oft als unabwendbares Schicksal hingenommen wurde. Folker, als erster aus unserer Mitte, hatte trotz Presseerzeugnissen der Westautonomen und sporadischer ideologischer Unterstützung von Westgruppen alle Erfahrungen selbst und stellvertretend und als Paradebeispiel für alle anderen zu machen. Seine Freunde, seine Szene unterstützte ihn dabei über die Jahre mal mehr, mal weniger.
In einem Heft zu einem Reaktionskonzert, am 28. Februar 1991, macht er sein Thema, das Thema allgemein öffentlich. An diesem Tag war gerade der Golfkrieg beendet worden, also das legale Herumballern durch offizielles Militär. D.M.B, Upset Noise und Slapshot gingen auf die Bühne im Eiskeller und es war eine Riesenfeier, vorrangig des hardcore wegen. Folkers Problem blieb. Auf einem weiteren Reaktionskonzert veröffentlichte Folker wieder einen kleinen Text, in dem er über die Entwicklungen informierte. Auch wenn keiner aus der Szene Folker seine Sorgen abnehmen konnte, setzte doch eine weitere Solidarisierung ein, bei Konzerten wurde Geld gesammelt, Benefizveranstaltungen wurden organisiert, im Zoro sogar eine allgemeine Benefiz-Konzertreihe (ausdrücklich in Anlehnung an die nunmehr im Conne Island aufgegangenen Reaktionskonzerte) neu ins Leben gerufen.
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