Falsch herum

Vor der Nikolaikirche entrollen Demonstranten für die Westkamera ein Banner. In der Eile jedoch falsch herum. (Foto: Christoph Motzer)

Dieses kuriose Bild aus der „wilden Revolutionszeit“ hat Christoph gemacht am 4. September 1989. Christoph ist ja selbst einer der Protagonisten im Buch und erzählt viel über diese Zeit und die Leute, die da aktiv waren. Über seine Fotografiererei und die Situationen, die er einfing, berichtet er weniger. In den Vorauflagen bebilderte das Foto den Text von Connie „Wir wollten etwas ändern und wir wollten an uns was ändern“, in dem sie die Zeit und die Situation um 1989 aus unserer Sicht beschreibt.  

 

Es ist klar, dass eine Geschichte dahinter steckt

In der neuen 4. Ausgabe ist das Bild in den Beitrag „Hoffnung auf Veränderung“ gewechselt, eher zufällig, welcher die Thematik aus der Perspektive von Ilona beschreibt. Die Situation, die auf dem Foto zu sehen ist, ist einer der Momente, der über Film und Medien zur Ikone des Herbst 1989 geworden ist: Bürger(rechtler) halten nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche ein Plakat hoch und Stasileute stürzen sich brutal auf sie und reißen das Stofftuch herunter. Diese kurze Szene wird in Rückschauen und Dokumentationen gern benutzt, um die Ereignisse in der DDR auf wenige Sekunden zu komprimieren, die letztendlich zur Wiedervereinigung und zur gegenwärtigen westlich- parlamentarischen Demokratie geführt haben. 

Das Foto, welches Christoph von eben dieser Situation geschossen hat und welches in unsere „Haare auf Krawall“- Galerie eingegangen ist, zeigt etwas völlig anderes von dem Geschehen, was die offiziellen Medien ausgeblendet haben, was nicht in deren Szenario passte: Hier posieren ein paar Leute mit einem Transparent für Reisefreiheit direkt vor einem West- Kameramann, die Gesichter der Beteiligten sind erschrocken, nicht wegen der Stasi, sondern weil das hastig entfaltete Transparent falschherum gehalten wurde. Diese beiden Szenen passen nicht zusammen und es ist klar, dass eine Geschichte dahinter steckt.

 

Die Konfrontation mit dem Staat lag förmlich in der Luft

Die Situation an diesem ersten Montag nach der Friedensgebet- Sommerpause war ambivalent. Zum einen gab es seit gut zwei Jahren die Reformbestrebungen von Intellektuellen, Bürgerbewegten und kirchennahen Leuten, die Veränderungen in der DDR anstrebten, die ein Land mit „menschlichem Antlitz“ einforderten, eine Gesellschaft mit westlichen Freiheiten. Andere sahen in der sowjetischen Reformbewegung unter Gorbatschow ein Signal, dass das Land mit Ehrlichkeit und Transparenz und der Loslösung vom stalinistischen  Erbe einen lebenswerten Sozialismus aufbaut. Wieder andere hatten mit der DDR abgeschlossen, sahen ihr Heil nur noch im Westen und wollte mit allem Mitteln weg. Und es gab die Opportunisten, die murren und meckern und doch jeden Scheiß mitmachten, nur weil es ihnen zum Vorteil gelangte. Es gab natürlich noch weitere Richtungen und Vorstellungen, was in anderen Städten wie z.B. Berlin dazu führte, dass sich alle Parteien – sicher zurecht – zerstritten und jeder Seins im Kleinen machte. In Leipzig bildete sich ein eigenartiges Gemisch aus Reformern und Protestlern bis hin zu  Ausreisewilligen und Kommunistenhassern, die 1989 vermehrt gemeinsam auf die Straße gingen, unter den Parolen, die die Initiatoren (zumeist bürgerbewegte Reformer) herausgegeben hatten. Wahlbetrug, Platz des Himmlischen Friedens und Abbau der Grenzanlagen von Ungarn zu Österreich, das waren die Themen, welche die Situation während der Sommerpause der Friedensgebete in St. Nikolai prägten. Wenn es nach dem Sommer wieder losgehen würde, musste einfach etwas passieren, lag förmlich die Konfrontation mit dem Staat in der Luft.

 

Nach der Veranstaltung in der Kirche strömten die Menschen auf den Vorplatz und warteten wie immer, dass etwas passiert.

Als der Fluchtweg Ungarn oder Botschaftsbesetzungen in den Nachbarländern  durch angekündigte Maßnahmen der DDR- Regierung zu versiegen drohte, erwachten die Massen der Ausreisewilligen und waren bereit mit im Westfernsehen Aufsehen erregenden Aktionen ihre Ausreise zu erzwingen. Dabei reisten sie montags zügeweise aus der Provinz und den umliegenden Städten nach Leipzig, wo dann natürlich die Post abgehen sollte. Offiziell konnte man durch die Stasiüberwachung eigentlich nicht mit westlichen Fernsehteams rechnen, aber am 4. September fand zugleich die Herbstmesse statt, zu der westliche Fernsehteams in Leipzig zu erwarten waren. Nach der Veranstaltung in der Kirche strömten die Menschen auf den Vorplatz und warteten wie immer, dass etwas passiert. An diesem Tag hatten sich einige Ausreisewillige und Fernsehteams bereits getroffen und verabredet und nutzten diese Minuten nach dem Friedensgebet, um Kommentare in die Kameras abzugeben, wie sie nicht in den Westen dürften oder wie schlimm das Leben in der DDR sei usw. 

Die Kameras surrten

Ich hatte mich auf eine der Grünflächeneinfassungen neben dem Ausgang gestellt und konnte die mit sich selbst beschäftigten Grüppchen mitten im Schweigen der großen Masse gut beobachten. Es hatte wohl auch eine kleine Info an Westkamerateams gegeben, dass nach dem Friedensgebet eine Aktion geplant sei, und westliche Fotografen und Fernsehleute (gut zu erkennen an ihren Klamotten, dem Equipment und ihrem vereinnahmenden Auftreten) warteten auf ihre Schnappschüsse. Dann ging es schnell, ein Fotograf postierte sich und ein aufgeregtes Grüppchen direkt vor ihm entrollte ein Transparent. Eben in der Eile verkehrt herum. Christoph, der etwas vor mir stand, ballerte mit seiner Kamera drauflos, denn er gehörte mit zu der Gruppe, die diese Aktion geplant hatte. Es wurden noch drei weitere Transpis entrollt und die Kameras surrten. Auf der Seite des Platzes, wo die Ritterstraße abging hatten sich Sicherheitskräfte in Zivil mit Beißbefehl postiert, die lange Hälse machten, wo sie eingreifen sollten. Es waren keine normalen Bepobullen oder Streifenpolizisten, sondern an ihren verschossenen Zivilklamotten, ihren Kaffee- und Zigaretten ausgehärmten „Das Leben der Anderen“- Visagen und ihren zur Gewalt bereiten Auftreten (Mielke soll Härte befohlen haben), konnte man durchaus die Genossen von Schild und Schwert erkennen. Diesen Montag wahrscheinlich direkt vom Schreibtisch weg an die Front beordert worden. Sie rissen die Plakate herunter, rissen ein Mädchen der Gruppe zu Boden und lieferten sich einen kleinen Bodenkampf. Christoph hatte sich mit seiner Kamera vor der Brust noch mit dem Rücken den Angreifern in den Weg gestellt, man sieht ihn auf dem Videomitschnitt der Aktion eines Westkamerateams. Damit wurde er, bzw. sein Rücken zum Lehrmaterial, dass nun in Dokumentationen zur Wende oder an Feiertagen durch die Öffentlich-rechtlichen gepeitscht wird.

Das Transparent auf dem Kopf erschien nicht in der Newsweek

Der ganze Ablauf, die Vor- und Nachgeschichte wurde 2017 von einem Westjournalisten nacherzählt, der seine Kontakte und sein Wissen über die Gruppe der beschriebenen Leipziger Jugendlichen im Spielgelverlag in Buchform gepresst hat. „Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution“ für Leute, die wissen wollen, wie Revolution leicht geht oder den Zusammenhang zum Prager Frühling nicht erkennen.  Der Fotograf auf dem Foto, mit „zwei Spiegelreflexkameras und mehreren Wechselobjektiven“, das war Armin Wiech aus Gelsenkirchen. Einige seiner 279 Fotos erschienen danach im Spiegel und der Newsweek. Später hatte der Fotograf wahrscheinlich nicht mehr so gute connections zum Spiegelverlag, aber er hat trotzdem seine Erlebnisse aufgeschrieben, seine Lebensbeichte aus den Tagen des Herbst 89. Da bekam er nämlich im Messe-Pressezentrum den Zuruf eines Kollegen: “Es geht los!“ und „Darauf rannten wir zur Nikolaikirche , wo sich (…) um die 1000, zumeist junge Menschen versammelt hatten (…)“ (Der Bericht geht noch weiter, natürlich irgendwo im Internet.) Christoph hat diese super Situation ins Bild bekommen, die ziemlich gut entlarvt, wie damals schon genau gesiebt wurde, wie die Ereignisse dargestellt und interpretiert werden sollten, denn das Transparent auf dem Kopf erschien nicht in der Newsweek. 

Am 4. September hatten die Fotografen in Leipzig genau das bekommen, was sie sehen wollten: Forderungen nach Reisefreiheit, eine prügelnde Stasi, welche Oppositionellen-Mädchen auf die Straße schubst und Leute, die ihre Ausreise in den Westen nicht bekamen. Dass das Plakat auf abenteuerliche Weise in die Innenstadt geschmuggelt werden musste, dass diese Aktion eine der ersten Plakataktionen der Montagsdemonstrationen war und deshalb panisch schnell durchgezogen wurde, um nicht gleich einkassiert zu werden und damit zu verpuffen, dass das kein happening mit kleiner Bullenboxerei war, sondern den Aktiven härteste Strafen drohten, das haben die Fotografen in ihren Bildern nicht eingefangen. Christoph schon, zumindest subtextmäßig. Das Plakat, übrigens eines von vieren, welches von den Stasimännern heruntergerissen wurde, lautete „Für ein offenes Land mit freien Menschen“.