Punker-, Hippie- und Aussteigertreffen 84 – Oder wie man als Stasi seine Arbeitsstunden voll bekommt.

In Haare auf Krawall haben wir auf das Abdrucken von Akten des MfS bewusst verzichtet. In einem Szenebuch wollten wir dem Staatsapparat keine größere Rolle zugestehen, als die Stasi ohnehin schon auf den Lebensweg mancher Protagonisten hatte. Erkenntnisse aber, die durch das Öffnen und Forschen in den Akten in den letzten Jahren von Bedeutung waren, sind in die Fußnoten und in die neu geschriebene Glossareinträge mit eingeflossen.

Die Stasi als unverzichtbares Überwachungsorgan im DDR-System galt nicht nur als übermächtig, sondern auch als unantastbar. Interessant ist daher, dass man beim Studieren ihrer hinterlassenen Schriften immer wieder auf Fälle stößt, die der Selbstlegitimation zu dienen scheinen:

 

Aussagen von Spitzeln werden aufgebläht, immer wieder zitiert und abgeschrieben ohne die Wichtigkeit oder die Sinnhaftigkeit und Schlüssigkeit der Information tatsächlich zu hinterfragen. Gesammelt wurde alles! Die Sachbearbeiter steckten auch in einer Erfolgspflicht, die, wenn sie in den monatlichen Berichten nicht liefern konnten, solange konstruierten und schön schrieben, bis ein Erfolg (wenigstens in den Aktenbergen) verzeichnet werden konnte. Oft fehlten ihnen auch Durchblick und Hintergrundinformation jenseits ihrer Behörden- und DDR-Sozialisation, um die in Akten gegossenen Informationen angemessen zu bewerten.

Fehlbewertungen waren an der Tagesordnung

In der OPK „Stern“, der Akte über die Band Wutanfall, wird beispielsweise in den Papieren die Gewinnung des Bassisten „Zappa“ als IM schnell zur Kontrolle über die komplette Band aufgebauscht. Nach dem Ausstieg des Sängers Chaos wird Zappa in den Akten der Stasi gleich zum Kopf der Band deklariert und nach einem angeblich von ihm verhinderten Konzert konstruiert Oberleutnant „Menzel“ in seinem monatlichen Bericht schon die Zerschlagung der Band durch den Einsatz seines Erfolgs-IM. Das Wutanfall ab diesem Zeitpunkt noch ein ganzes Jahr aktiv Konzerte spielen, weiterexistieren und sich schließlich von selbst auflösen, versucht er unter den Tisch fallen zu lassen. Das Fortbestehen der Band versucht er der K1 (Polizei mit Stasi-Befugnissen und geheimdienstlichen Methoden) in die Schuhe zu schieben, die ebenfalls ihren Informanten IMKR „Schwarz“ in der Band verankert haben und sich weigern, diesen abzuziehen. Die Akten der Stasi sind also nicht nur nüchtern zusammengetragene Fakten, sondern oft bereits interpretierte Zusammenhänge und oft schlecht geprüfte Daten, deren Wahrheitsgehalt angezweifelt und deren Aussagen nur kritisch verwendet werden sollten.

Lässt man kurz den Gedanken über die Drangsal und die Härte, welche die von der Stasi zu bearbeitenden Personen zu erleiden hatten, für einen kurzen Augenblick beiseite, ist es möglich, auch über die Stasi zu schmunzeln. Ein Beispiel dafür, wie aus einer Mücke ein Elefant gemacht werden kann, der die Arbeit eines ganzen Haufens Mitarbeiter für gewisse Zeit legitimiert, findet sich in der Akte KA „Verbund“. Es handelt sich dabei um eine frühe Sammelakte aus Leipzig, die zum Ziel hatte, die ersten Leipziger Punks zu identifizieren und über ihre Aktivitäten aufzuklären.

31.08.84

Die Kreisdienststelle (KD) Naumburg informiert die Kreisdienststelle Leipzig über ein geplantes „Aussteigertreffen“ am 1./2.09.84 in Leipzig. (Punker, Hippies, Rocker)

Kreisdienststelle Naumburg beauflagt Naumburger Punks (Leipzigverbot)

Kreisdienststelle Leipzig stellt Maßnahmen auf: Kontrolle Einzugsbereich, Fotodokumentation, VPKA und K1 werden informiert

Übersetzt ins Deutsche:

Die Naumburger Stasi bekommt von einem ihrer Informanten die Information gesteckt, es soll ein „Aussteigertreffen“ in Leipzig geben. Möglich sind Punker, Hippies und Rocker – oder alles zusammen. Sofort wird diese Information ungeprüft nach Leipzig gegeben, wo die Stasi vermutlich den revolutionären Weltuntergang befürchtet. Nur so ist zu erklären, dass unverzüglich alle verfügbaren Einheiten informiert werden, um das MfS zu unterstützen.

BStU, MfS, BV Lpz., KD Lpz.-Stadt, Nr. 00040, BD. 2, S. 37.

31.08.84

BV für Staatssicherheit Abteilung XX (Abteilung Jugend und Untergrund)

Operativ-Information

In Leipzig soll „Aussteigertreffen“ stattfinden. Teilnehmer wollen 12.00 Uhr mit Zug von Naumburg nach Leipzig fahren und werden gegen 13.00 Uhr am Hauptbahnhof abgeholt. KD Naumburg hat Maßnahmen zur Verhinderung eingeleitet.

KD Leipzig wird mit Trapo (Transportpolizei) Züge kontrollieren, um Treffen zu verhindern, damit keine negativen Handlungen davon ausgehen können.

Ort des Treffens in Leipzig noch unbekannt.

Übersetzt ins Deutsche:

Noch stochert die Stasi im Dunklen wo, wie und was passieren wird. Trotzdem erfolgen die ersten Befehle: Verhinderung der Einreise von Punks in die Stadt, um Massenaufstände, brennende Autos und Revolution in Leipzig gerade noch zu verhindern.

BStU, MfS, BV Lpz., KD Lpz.-Stadt, Nr. 00040, BD. 2, S. 39.

Information des IKMR „Schwarz“

„Schwarz“ hat Einladung zu „Aussteigertreffen“ bekommen. Soll in Bernhardstraße bei Chaos stattfinden. Thema: Weihnachtsfeier.

Ca. 25 Personen sollen teilnehmen. Beginn nachmittags. Vermutlich auch Magdeburger dabei.

Übersetzt ins Deutsche:

Endlich neue Informationen. Auf Imad ist Verlass. Endlich eine Adresse. Endlich das wahre, gefährliche Vorhaben der Aufständigen: eine Weihnachtsfeier im September! Anzahl des Feindes: ca. 25 Personen, die sich verbotenerweise nachmittags treffen wollen, um gemeinsam vermutlich den Weltuntergang herbei zu beschwören! Die Verschwörung ist größer als gedacht. Auch Magdeburger sind verstrickt.

BStU, MfS, BV Lpz., KD Lpz.-Stadt, Nr. 00040, BD. 2, S. 57.

Leipzig, 1.9.84 BV für Staatssicherheit

Quelle für Information ist ein Informant der K1. Dieser soll am Treffen teilnehmen. Ort noch nicht bekannt. Vermutung „Aussteigertreffen“ in Bernhardstraße – Feststellung: dort wohnt Gutjahr (Chaos, Sänger von Wutanfall)

Maßnahmenplan:

– Hauptbahnhof wird durch Abteilung XX kontrolliert. (Stasi)

– Beobachtung durch Teilnahme des K1 Informanten am Treffen (K1)

– Kontrolle der bekannten Treffpunkte von Punks (Stasi)

Übersetzt ins Deutsche:

Noch ist die Information der Bestätigung des Ortes durch IKMR “Schwarz“ nicht zu allen durchgedrungen. Im hintersten Zimmer wird noch gerätselt, aber die Genossen haben eine Idee. Immerhin kennt man den Bewohner einer Wohnung in der Straße: Chaos. Um ganz sicher zu gehen, wird gleich die Wohnung eines anderen bekannten Punks (Stracke) in der Stadt mitobserviert. Sonst hätte einer der Kollegen heute frei.

BStU, MfS, BV Lpz., KD Lpz.-Stadt, Nr. 00040, BD. 2, S. 52.

Leipzig 02.09.84, BV für Staatssicherheit

Kontrollen von 12.00 Uhr bis 16.00 Uhr

Kontrolle Hauptbahnhof, Bernhardstraße (Wohnung von Chaos) und Scherlestraße (Wohnung von Stracke)

Ergebnis: Keine Punks am Hauptbahnhof, keine Punks in Bernhardstraße, keine Punks in Scherlestraße.

Aber eine Person punkermäßig gekleidet die Kneipe in Bernhardstraße aufgesucht hat.

Ca. 17.00 Uhr: Immer noch keine Punks am Hauptbahnhof, aber 4 Punks, die kurz bei Chaos vorbeigeschaut haben.

Übersetzung ins Deutsche:

Kein Aussteigertreffen am 1.09.84 in Leipzig aber eine punkermäßig aussehende Person auf dem Weg in die Kneipe – und das am Nachmittag!

BStU, MfS, BV Lpz., KD Lpz.-Stadt, Nr. 00040, BD. 2, S. 53

Auswertung mit Erfolgsverkauf:

Anreise von 4 Punks aus Naumburg verhindert

Irgendwo in der Stadt wurden 20 Punks festgestellt

 

Übersetzung ins Deutsche:

Der Einsatz von Trapo, VPKA, K1 und MfS hat sich richtig gelohnt. Immerhin wurden 20 Punks in Leipzig gesehen und 4 negativ dekadente Jugendliche an der Abfahrt von Naumburg gehindert.

BStU, MfS, BV Lpz., KD Lpz.-Stadt, Nr. 00040, BD. 2, S. 58.

03.09.84 Auswertung 2

Auf den Observationsbildern vor der Bernhardstraße finden sich keine Punks

(Die Bilder werden aus datenrechtlichen Gründen hier nicht veröffentlicht! Nur als kurze Beschreibung: fotografiert wurde u.a. eine Frau mit Kinderwagen und 2 Kinder auf dem Fahrrad)

Übersetzung ins Deutsche:

Wieder einmal den Sozialismus verteidigt!

BStU, MfS, BV Lpz., KD Lpz.-Stadt, Nr. 00040, BD. 2, S. 40.