Wutanfall - die Geschichte

Viertel vor Punk

Nachdem das Phänomen Punk 1977 aus England und den USA die BRD erreicht hatte, gelangte es spätestens 1979 auch über den „eisernen Vorhang“. Bald war Punk in der gesamten DDR angekommen. Überall durchsuchten punkinteressierte Jugendliche die Radiostationen des Klassenfeindes nach passender Musik oder ließen sich durch die Bilder aus der „Bravo“ inspirieren, welche über dunkle Kanäle in den Osten gelangte.

 

Nicht zuletzt trug auch die DDR-Presse, welche voller Häme über die Punkbewegung als Verfallserscheinung des kapitalistischen Systems berichtete, zur Verbreitung von Punk bei.

aus "Neues Leben" 1982

Trotz des gleichen Musikgeschmacks waren die Unterschiede zwischen Ost- und Westpunks gravierend. Die Parteilinie im Osten sah in der Strömung von Anfang an eine Bedrohung der sozialistischen Gesellschaftsordnung und damit ein Politikum. Dies entsprach allerdings keinesfalls der Wirklichkeit. Es waren 15- bis 17-jährige Jugendliche, fast noch Kinder, die auf der Suche nach eigenen Ausdrucksmöglichkeiten, anderer Musik und Outfits Punk für sich entdeckt hatten. Es ging um das Ausbrechen, Verändern, etwas Eigenes Machen, wie Musik,  und den Spaß am Improvisieren. Das Hier und Jetzt war spannend: keine Pläne, keine Vorschriften.  Staatsfeindlich war anfangs keiner von ihnen.

Protokoll der Habseligkeiten von Chaos nach einer Zuführung in Berlin

 

Und doch reagierte das MfS mit aller Härte. Zuführungen waren bald an der Tagesordnung. Es wurden Strafen nach willkürlichem Strafmaß verhängt, Spitzel in der Szene angeworben, eingeschleust und Einzelne kriminalisiert. Ganze Bands wurden aufgrund ihrer Texte zu langen Haftstrafen verurteilt, angebliche Anführer isoliert, abgeschoben oder solange psychologisch manipuliert, bis sie klein beigaben. Die, die dieses Martyrium erlebt hatten, wussten nach diesen Erfahrungen sehr genau, was sie von diesem Staat zu halten hatten.

Leipzig 1981

Irgendwann hatte man sich gefunden: eine Handvoll Punkinteressierter aus allen Stadtteilen Leipzigs. Man tauschte Kassetten, erkundete die eigene Vorstellung von Punk, trug Opas Klamotten und bemalte abgerissene Knöpfe, die stolz als Badges getragen wurden. Punk war noch nicht wirklich definiert. Es war in der DDR „AC/DC“ genauso wie „Sex Pistols“, auf jeden Fall etwas Spannendes.

Und so gründete sich die erste Punkband Leipzigs. „Wutanfall“, bestehend aus Chaos, Rotz und Typhus. Keiner von ihnen konnte vorher ein Instrument spielen. Eine selbstgebaute Gitarre und ein Schlagzeug, gebastelt aus Eimern und Gurkenfässern, waren das Equipment.

Im August 1981 fand ihr erster Auftritt in einem kleinen Raum, welchen man für Geburtstage oder private Feiern mieten konnte, statt. Ungefähr 10-15 Leute erlebten das erste Punkkonzert Leipzigs. Die Wände waren nass durch die Luftfeuchtigkeit im Raum, ein Brötchen hing an einem Faden von der Decke, nach dem der Sänger Chaos schnappte, und am Ende wurde ein Röhrenradio mit einer Axt zerhackt. Einen zweiten Auftritt eine Woche später beendete die Volkspolizei wegen Ruhestörung. Angestachelt von diesen beiden Konzerten sammelten sich nun immer mehr Jugendliche um die Band. Knöpfe wurden als Badges bemalt, T-Shirts besprüht, Ketten und Nieten auf Arbeit hergestellt.

Das erste Konzert von Wutanfall in der Wäscherolle Leipzig Möckern, August 1981 (Foto: Stefan Lorber)
Platz wo1981 die Wäscherolle stand 2018 (Foto: Schrammel)

1982

Anfang des Jahres lernten die Mitglieder von „Wutanfall“ Imad kennen. Dieser hatte eine riesige Wohnung in der Innenstadt. In seinem Wohnzimmer stand eine richtige Anlage und ein richtiges Schlagzeug, was „Wutanfall“ die Möglichkeit gab auf echten Instrumenten zu spielen. Daher verlegte die Band ihren Proberaum dorthin und Imad stieg als zweiter Gitarrist bei der Band ein. Damit wurde die Auenstrasse neuer Mittelpunkt der kleinen Szene.

Die Proben wurden zu Treffpunkten, es wurden Partys organisiert und Gäste kamen aus anderen Städten. Die Punkszene begann sich zu vernetzen. Bald war „Wutanfall“ überall bekannt, nicht zuletzt weil die Band sowie Sympathisanten in sämtlichen Städten mit Lackstiften oder Spraydosen den Schriftzug der Gruppe hinterließen.

Die, die sich auf den Weg nach Leipzig machten, um ein Proberaumkonzert der Band zu erleben, wurden nicht enttäuscht. „Wutanfall“ war schneller und aggressiver als die meisten anderen DDR-Punkbands.

Party in der Auenstraße Anfang 1982 (Foto: Archiv Maik "Ratte" Reichenbach)

Durch die Vernetzungen zu Punkern in anderen Städten bot sich auch die Möglichkeit außerhalb Leipzigs aufzutreten. So spielte die Band unter anderem in der Jungen Gemeinde Jena oder in Erfurt in der offenen Arbeit.

Allerdings häuften sich auch die Probleme in der Öffentlichkeit für Punks. Im Bus, in der Bahn und auf der Straße wurden sie aufgrund ihres Äußeren angepöbelt, in vielen Kneipen wurden sie nicht bedient, eine Disko bot immer die Möglichkeit auf eine Schlägerei. „Normale“ Bürger riefen ihnen Naziparolen hinterher oder griffen sie tätlich an und nicht wenige waren auf sich allein gestellt, weil ihr Elternhaus völlig überfordert mit ihrer Entwicklung war.

Wutanfall live 1982 in Jena (Foto: Archiv Jens-Peter "Kid" Salzmann)

Das MfS wurde schnell auf die Punks in Leipzig aufmerksam. Eine erste Zuführung einer kleinen Gruppe Punker in der Innenstadt ist bereits am 11.12.1981 vermerkt. Anfangs versuchte die Staatssicherheit das eigenartige Phänomen dieser Jugendlichen zu erfassen und zu verorten. Mit dem Anwachsen der Gruppe – in den Akten findet sich die Zahl von 30 – 35 Punkern und einer unbekannten Menge an Sympathisanten –  geriet das MfS zunehmend in Zugzwang. Mit ihrem Äußeren stellten die Punks eine Bedrohung für die innere Sicherheit und Ordnung dar. So begann das MfS, Namen und Fakten über die einzelnen Personen zu sammeln.

Die Band in einem Nebenraum des neuen Proberaums in der Sternwartenstraße 55 HH 1982, Foto: Tilo Hartig)

Mittlerweile hatte die Band einen Typen (Zappa) kennengelernt, welcher etwas Bass spielen konnte. Dieser wohnte mit anderen Leuten gemeinsam in einem Abrisshaus im Seeburgviertel der Stadt, der Sternwartenstrasse 55. Er stieg als Bassist bei der Band ein. Von Imad hatte sich „Wutanfall“ getrennt, da es zu Meinungsverschiedenheiten gekommen war. Der Dachboden des baufälligen Hauses wurde Proberaum und neuer Szenetreffpunkt. Ende des Jahres spielten Wutanfall Auftritte im Leipziger TAS-Club, einem Studententreffpunkt, und in der jungen Gemeinde der Michaeliskirche.

1983

Die Punkszene war inzwischen DDR-weit stark angewachsen. Vielerorts hatten sich Bands gegründet. Einige Kirchen öffneten ihre Türen für Punker und ließen zu, dass in ihren Räumen Punkkonzerte stattfinden konnten. „Wutanfall“ spielten unter anderem in der Nikolaikirche Leipzig, der Christuskirche Halle, wo im April das erste Punkfestival der DDR stattfand, und in Rudolstadt.

Darüber hinaus planten „Wutanfall“ ein eigenes, öffentliches Konzert und beantragten dazu eine Einstufung. Natürlich war der Band klar, dass sie niemals eine „Pappe“ und damit die staatliche Erlaubnis zum öffentlichen Auftreten erhalten würden. Der Antrag darauf bedeutete allerdings, nur einen weiteren Auftritt zu haben, nicht mehr und nicht weniger.

Das Konzert fand am 31.03.1983 statt. Anwesend waren nicht nur Fans der Band, sondern auch viele Interessierte aus der Leipziger Musik- und Kunstszene. Der Name „Wutanfall“ hatte sich herumgesprochen. Punk hatte auch das Interesse der Künstler geweckt.

Zufällig landete die Konzertankündigung zum Einstufungskonzert in der Leipziger Volkszeitung - Sehr zum Unwillen der Stasi. (Archiv Stefan Lorber)

Schon seit Anfang 1982 begleitete die Fotografin Christiane Eisler, welche für ihre Diplomarbeit Bilder von den Punks machte, die Band. Auch Volker Stelzmann porträtierte die Band.

Natürlich bekam „Wutanfall“ keine Einstufungsgenehmigung. Schon länger hatte das MfS die Band im Visier und verhinderte bereits im Vorfeld eine positive Entscheidung. Für die Stasi stand fest, dass es sich bei „Wutanfall“ um den Mittelpunkt der Punkszene Leipzigs handelte.

Foto in der Akte OPK "Stern" vom überbrückten Stromzähler des Proberaums.

 

Bereits am 03.02.1983 wurde von der Stasi daher eine Operative Personenkontrolle eingerichtet. Neben der strategischen Verunsicherung der Bandmitglieder sollten auch Inoffizielle Mitarbeiter (IM) direkt in die Gruppe eingeschleust werden. Schon seit 1981 berichtete ein IM über die Band, lieferte Texte ab und gab Informationen weiter. Auch Imad arbeitete inzwischen als Spitzel für die K1.

Im Sommer 1983 gelang es dem MfS, Zappa, den Bassisten der Band für eine Zusammenarbeit zu verpflichten. Dieser erhoffte sich dadurch eine legale Wohnungszuweisung, da er in der baufälligen Sternwartenstraße 55 nur illegal wohnte.  Das Haus mit dem Proberaum von „Wutanfall“ wurde rund um die Uhr von der Stasi überwacht.

Während des Vorgangs der OPK wurde Chaos immer weiter in den Fokus gerückt und unter immensen Druck gesetzt. Phasenweise wurde er bis zu dreimal in der Woche zum Verhör abgeholt. Er wurde zusammengeschlagen und gezwungen, Texte und eine Kassette mit Aufnahmen abzugeben. Später wurde ihm der Personalausweis entzogen und durch einen PM12 ersetzt, was Sanktionen wie Innenstadtverbot, Reiseverbot, Kontrollen- und unbegründete Zuführungen seitens staatlicher Organe nach sich zog.

Die Band im Proberaum an einem heißen Sommertag (Foto: Mart v.d. Munckhof)
Originalabschrift eines Textes von einem IM für die Stasi

Inzwischen wurde die Zerschlagung der Jugendbewegung Punk zur Chefsache erklärt. Erich Mielke befahl, mit voller Härte gegen Punk vorzugehen. Im August 1983 kam es in Berlin zur Verhaftung der kompletten Band „Namenlos“ aufgrund ihrer Texte. Aus Protest dagegen kam es in Leipzig Grünau zu einer Sprühaktion. Bereits in den nächsten Tagen wurden die Sprayer aus dem Umfeld von „Wutanfall“ verhaftet. Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft ordnete das Vergehen nicht als Sachbeschädigung, sondern als „politisch motivierte Tat“ ein. Die Haftstrafen für die drei Angeklagten fielen dementsprechend hoch aus.

 

Am 18.11.83 kam es zu einer Protestaktion für den Frieden vor dem Leipziger Capitol. Dort fand derzeit die internationale DOK-Filmwoche statt. Jugendliche stellten schweigend mit lila Halstüchern Kerzen auf. Viele Journalisten aus der BRD waren anwesend. Durch den Verrat eines IM wurden die Protagonisten noch vor Ort verhaftet. Unter ihnen befand sich auch ein Punk (Stracke), welcher vom MfS zum engeren Umfeld von Wutanfall eingestuft wurde.

Der Druck auf die Band verdichtete sich immer mehr. Nachdem Chaos von der Staatssicherheit während eines Verhörs so zusammengeschlagen wurde, dass er in Ohnmacht fiel, zog er Konsequenzen. Er stieg bei „Wutanfall“ aus. Auch musikalisch wollte sich Chaos neu orientieren. Fortan widmete er sich dem Noise-Projekt „Pffft…!“ Bei „Wutanfall“ übernahm Stracke den Gesangspart.

Die Westpresse war vor Ort. TAZ - Artikel

1984

Stracke am Gesang. Auftritt 1984 in Berlin Ulmenhof (Bild: Archiv Ray Schneider)

Anfang 1984 wurde das Haus in der Sternwartenstraße von der Wohnungsbaugenossenschaft geräumt und zugenagelt. Ein neues Domizil für ihren Proberaum fand „Wutanfall“ im Keller von Cäsars Anwesen im Norden der Stadt. Nachdem auch Typhus aus der Band ausgestiegen war, übernahm wieder Imad die Gitarre. Es folgten Auftritte in Karl-Marx-Stadt und Berlin.

Als nun wenig später auch Zappa die Band verließ, spielte mit Rotz nur noch ein Gründungsmitglied in der Band. Auch die musikalischen Interessen gingen immer mehr auseinander. Daher löst sich die Band Mitte 1984 endgültig auf. Zappa machte weiterhin mit Chaos zusammen Musik bei „Pffft…!“, Rotz widmete sich mit Toni Zekl dem Projekt „Delta Z“ und Imad gründete mit Stracke, Ratte und Robert Gläser die Band „L’Attentat“.

Die OPK „Stern“ wird jedoch erst im Oktober 1986 geschlossen. Im Abschlussbericht wurde die Lage der sechs mutmaßlichen Bandmitglieder zusammengefasst: drei ausgereist, einer weg von der Punkszene, zwei unter Kontrolle. Die Band sei zwar zerschlagen, die Akte archiviert, allerdings müssten die in der OPK beobachteten Personen weiterhin polizeilich überwacht werden, da von ihnen ein erhöhtes Gefahrenpotenzial ausgehe.

Wutanfallsymbol am Durchgang zu Chaos' ehemaliger Wohnung im Leipziger Osten 2018 (Foto: Schrammel)